Was im Leben zählt
vorbei.
Darcy war schon immer leicht abzulenken und hat ihre gutgemeinte schwesterliche Absicht schon fast wieder vergessen, als wir in der Mittagspause durch die Aula in Richtung Mädchenumkleideräume schlendern. Den Schwangerschaftstest halte ich fest in meiner Hand.
«Gott! Gruselig, wie wenig sich hier verändert hat.» Sie beäugt die Plaketten über dem Eingang zur Turnhalle, auf denen die Namen diverser Mannschaftskapitäne eingraviert stehen. Sie beißt von dem Erdnussbuttersandwich ab, das ich ihr heute Morgen eingepackt habe, und versucht, mit der Zunge das klebrige Brot von den Backenzähnen zu lösen.
«Du hast doch erst vor fünf Jahren deinen Abschluss gemacht. Was für eine Veränderung hättest du denn innerhalb von fünf Jahren erwartet?», frage ich, tausend andere Sachen im Kopf.
«Mach dich doch nicht lächerlich. Dieser Ort kommt mir vor, als wäre er in einer Zeitschleife erstarrt», sagt sie und pult sich inzwischen mit dem Finger an den Backenzähnen.
Ich halte ihr die Tür zur Mädchentoilette auf, und sie trottet hinein, den Kopf hierhin und dahin reckend, den winzigen Erinnerungsfetzen ausgeliefert, die sie endgültig hinter sich glaubte.
«Himmel!» Darcy holt tief Luft. «Hier hätte ich fast meine Unschuld verloren. Hast du das gewusst?»
«Nein», sage ich. «Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.» An der ersten Kabine gehe ich vorbei – die Toilette ist eindeutig verstopft –, betrete die zweite und sperre hinter mir zu. Mit zitternden Fingern öffne ich die Schachtel und packe den versiegelten Stab aus, der mir vielleicht die Nachricht bringt, auf die ich sämtliche Hoffnungen setze. Mein perfektes Baby. Mein perfekter Ehemann. Mein perfektes Leben.
Ich lese die Gebrauchsanweisung gleich zweimal durch und bekomme beide Male bestätigt, dass diese Kombination aus Wissenschaft und Technik in der Lage ist, mir zu sagen, ob ich schwanger bin, noch ehe ich selbst es weiß , selbst wenn ich kaum drüber bzw. eigentlich noch gar nicht drüber bin. Und während Darcy vor der Kabine immer noch vor sich hin murmelt, hocke ich mich hin, ziele und eröffne das Feuer.
«Alles okay da drin?», fragt sie plötzlich. Eben noch völlig mit ihren eigenen Ängsten beschäftigt, ist sie jetzt wieder ganz und gar in Sorge um ihre große Schwester.
«Ja, alles gut.» Ich starre auf den kleinen Plastikwahrsager in meiner Hand, lasse das Sichtfensterchen nicht aus den Augen, um nur ja den magischen Augenblick nicht zu verpassen, wenn sich das reinweiße Feld wie durch Zauberhand in etwas Rosarotes, die Welt Veränderndes verfärbt. «Ich warte nur.»
Ihre Schritte kommen näher, dann tauchen ihre abgestoßenen schwarzen Turnschuhkappen unter der Tür auf. Sie schlägt mit der flachen Hand gegen das Holz. «Was auch rauskommt, Til, es ist nicht das Ende der Welt.»
Meine Schwester, ganz die Zweckpessimistin.
«Natürlich nicht!» Ich konzentriere mich weiter auf die bescheuerte rosarote Linie. «Behalt lieber die Uhr im Auge. Und sag mir, wenn drei Minuten vorbei sind.»
«Wird gemacht.» Und dann verstummen wir beide. Zäh wie Kaugummi verrinnen die Sekunden, und jetzt komme ich mir vor, als wäre die Zeit erstarrt. Endlich, mit einem Aufatmen, sagte Darcy sanft, fast zärtlich: «Die Zeit ist um», und obwohl ich die Augen nicht eine Sekunde lang von dem Schwangerschaftstest gelöst habe, zwinge ich mich trotzdem, noch mal genauer hinzusehen. Vielleicht ist mir in den letzten einhundertachtzig Sekunden ja doch etwas entgangen.
Aber nein. Das Fenster ist leer. So leer wie eh und je. Kein perfektes Baby in meinem Bauch, kein perfekter Ehemann, der anzurufen wäre, um ihm die freudige Botschaft zu überbringen. Ich bin erstaunt über das Ausmaß der Enttäuschung, über den pochenden Schmerz, dessen Widerhall noch in den tiefsten Eingeweiden zu spüren ist. Ich lege die Hand sanft gegen das Holz, stelle mir die von Darcy auf der anderen Seite vor, erspüre ihre Präsenz, dankbar für den Beistand, bis mein Verstand den Körper endlich aus seiner Erstarrung entlässt und ich die Willenskraft aufbringe vorwärtszugehen, vorwärts, nur raus hier, raus und weg, so schnell es geht.
«Na komm.» Vier Minuten später fasst Darcy mich beim Ellenbogen. Das Pathos von eben ist gezwungener Fröhlichkeit gewichen. «Deswegen ist nicht alles vorbei. Komm, du brauchst Aufmunterung.»
Schwungvoll biegt sie rechts ab, quer durch die Aula, und steuert auf den Musiksaal zu, ihr langjähriger
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