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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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sie, zusammengesunken über den Tasten, und ich würde sie am liebsten wachrütteln. Ich möchte sie hochreißen und anschreien. «Kapierst du es eigentlich nicht? Wenn nichts sich je verändert, dann kann auch nichts verloren gehen!» Doch dann schlägt sie ein paar sehr tiefe Töne an, es klingt fast wie eine Ankündigung, und mir wird klar, dass es schon zu spät ist; die Dinge haben sich bereits aufgelöst, auch wenn ich nicht festmachen kann, wann oder wie oder warum es angefangen hat.
    Neben mir schiebt sich leise die Tür auf, und ein schlaksiger Mann in tiefsitzender, ausgeblichener Leinenhose schiebt sich herein. Mich sieht er gar nicht, registriert nur Darcy, die natürlich keinerlei Notiz von ihm nimmt. Verwirrt schaut er auf den Zettel in seiner Hand, macht einen Halbkreis und weiß offensichtlich nicht, wohin. Er sieht aus wie ein kaputter Kompass.
    «Kann ich Ihnen helfen?», frage ich flüsternd.
    Er schiebt sich die Schildpattbrille zurecht und streicht sich mit der freien Hand durch die kurzen, glänzend blonden Haare.
    «Entschuldigung», sagt er genauso leise wie ich, und dann lächelt er, ein breites, offenes, einnehmendes Strahlen. «Ich suche den Kunstsaal. Kelsey aus dem Sekretariat hat mir eine Wegbeschreibung gezeichnet.» Er streckt mir den zerknitterten Zettel entgegen. «Aber ich glaube, ich habe mich verlaufen.»
    «Oh, ich zeige Ihnen den Weg», sage ich. «Kommen Sie mit.» Ich schlüpfe leise zur Tür hinaus und mache sie sanft hinter uns zu. Die Tür ist schallisoliert, und sofort sind Darcy und ihre Musik verschwunden.
    «Sie ist unglaublich», sagt er und deutet auf die Tür.
    «Ja», sage ich mit einem Grinsen, das sofort wieder erstirbt, weil mir mit einem Schlag die einsame rosarote Linie und all die Hoffnungen, die ich auf das leere Sichtfeld gesetzt habe, wieder in mein Gedächtnis drängen. «Äh, ich will ja nicht unhöflich sein, aber darf ich fragen, wer Sie sind?» Ich setzte mich in Richtung Kunstsaal in Bewegung.
    «Oh, Entschuldigung!» Er streckt die Hand aus. «Ich bin Eli Matthews. Ich vertrete im Sommer und bis in den Herbst hinein Mr. Ransom.»
    «Ach, du bist die Vertretung, das hatte ich ja ganz vergessen!», sage ich und schüttle seine Hand. Mr. Ransom, seit über fünfunddreißig Jahren Kunstlehrer in Westlake, hat eine Auszeit genommen, um sich um seine Frau zu kümmern, die an Alzheimer erkrankt ist. «Also dann. Willkommen an der Westlake High. Ich bin Tilly. Die Beratungslehrerin.»
    «Ah. Die Beratungslehrerin. Diejenige, die immer genau weiß, was bei jedem so läuft. Mit dir muss ich mich gutstellen.» Er lächelt wieder, und ich fühle mich augenblicklich wohl. Die Schwermut ist wie weggeblasen.
    Wir biegen um die Ecke und erreichen den abgelegensten Unterrichtsraum im rechten Schulflügel. Im gleichen Augenblick ertönt der Gong, die Türen im Korridor hinter uns springen auf, und Teenager schwärmen heraus wie Bienen aus dem Stock.
    «Da sind wir.» Ich drehe den Türknauf, aber er klemmt. Ich beuge mich vor, um den winzigen Haken unterhalb des Knaufs zu finden, mit dem die Tür sich automatisch von außen öffnen lässt. «Sekunde. Als ich noch hier zur Schule ging, habe ich rausgefunden, wie man einbrechen kann.» Ich wende den Kopf und sehe zu ihm hoch. «Bis zum Abschlussjahr habe ich einen Haufen Zeit hier hinten verbracht.»
    «Kunstfreak?», fragt er im Scherz.
    «Verkappter Kunstfreak. Verhinderter Kunstfreak trifft es wahrscheinlich am besten. Eigentlich mehr Cheerleader», sage ich. Das Schloss gibt nicht nach.
    «Schlüssel», sagt er, tippt mich an und zieht einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Er wackelt mit den Augenbrauen, als hätte er soeben das Heilmittel für meine Qualen entdeckt. Ach herrje. Als hätte ausgerechnet er auch nur im Ansatz ein Heilmittel für meine Qualen.
    Es klingelt wieder, die Fünfminutenpause bis zum nächsten Unterricht ist vorbei, und plötzlich fällt mir Darcy wieder ein, die verloren in ihren Melodien im Musiksaal sitzt.
    «Ich muss weiter», sage ich. «Schön, dass du’s gefunden hast.»
    «Schön, dass du mir geholfen hast», sagt er, als das Schloss aufgeht.
    «Jederzeit gerne», antworte ich, bemüht, seinen fröhlichen Tonfall zu erwidern, und mache mich auf den Weg. Natürlich habe ich geholfen , denke ich. Ich helfe nun mal. Das ist meine Art.

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    Neun
    I ch träume, dass ich schwanger bin. Mein Bauch ist rund wie ein Medizinball, meine Brüste sind zwei geschwollene

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