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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Zufluchtsort auf der High School. Wenn sie hier war, vergaß sie oft völlig die Zeit, und ehe sie den Führerschein hatte, war ich dazu verdonnert, sie abzuholen. Auf dem Weg zum Musiksaal kam mir oft schon ihre Musik entgegengeweht. Mal fordernd, mal flüsternd, mal lockend, mal laut klang eine Melodie durch die Flure, und die vielen Ängste, die Darcy plagten, lösten sich unter den Klaviertasten in nichts auf. Meine Mutter sagte immer, Darcy sei hochbegabt, aber wenn ich ehrlich bin, maßen wir diesem Umstand nach Moms Tod alle nicht besonders viel Wert bei. Wir tolerierten die unzähligen Stunden, die Darcy am Klavier verbrachte, weil sie sich – völlig versunken über den Tasten – in einen anderen Menschen verwandelte: in einen Menschen ohne Angst, ohne Furcht. Sie wirkte rund, weich, sanft, verzückt, entrückt, unschuldig. Aber hochbegabt? Erst als man ihr ein Vollstipendium in Berklee anbot, wurde uns klar, wie groß ihr Talent tatsächlich war. «Ich hab’s euch doch gesagt» waren ihre Worte, als sie triumphierend den Brief aus der Post zog. Und dann verschwand sie zur Haustür hinaus, wahrscheinlich zu Dante, und erst da kam mir der Verdacht, dass dieser Augenblick, der ein Triumph in Darcys Leben hätte sein können, wieder mal nur ein schaler Moment gewesen war. Ich weiß noch genau – selbst jetzt noch, fünf Jahre später –, wie sehr ich mir damals, als es zu spät war, gewünscht hätte, ihrem Talent von vornherein mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, es zu nähren, statt es mit Missachtung zu strafen, es mit offenen Armen willkommen zu heißen, anstatt darin lediglich eine weitere anstrengende und nicht besonders bemerkenswerte Eigenschaft meiner komplizierten kleinen Schwester zu sehen.
    «Ihr wollt also wirklich Grease machen?» Darcy durchschreitet den verwahrlosten Musiksaal.
    «Ja, glaub schon. Das wird sicher lustig. So wie damals, im Abschlussjahr von Susie und mir.»
    «Nicht besonders originell», sagt sie.
    «Wieso muss es denn unbedingt originell sein?», schieße ich zurück. «Es ist doch nur ein Musical. Es soll Spaß machen.»
    Darcy zuckt die Achseln. «Es ist eben langweilig. Typisch Westlake.»
    «He! Mir gefällt es hier.»
    «Klar.» Sie zieht eine Klavierbank heraus und lässt sich daraufplumpsen. «Klar gefällt es dir hier.»
    «Was meinst du damit?»
    «Damit meine ich, dass nichts sich jemals ändert», sagt sie, und dann streicheln ihre Finger die Tasten, ihre Schultern verschmelzen mit dem Rücken, ihr ganzer Körper verändert sich, beinahe unmerklich, bekommt eine völlig andere Energie.
    Ich würde am liebsten zurückschießen, aber ich unterdrücke den Drang, weil ich weiß, dass sie nichts dafür kann, dass sie einfach darauf gepolt ist, gegen alles Enge und Gerade zu rebellieren, gegen all das, worauf ich mein Leben gegründet habe. Außerdem ist sie sowieso längst in ihrer Musik verschwunden.
    Sie spielt eine Melodie, die ich nicht kenne, wahrscheinlich eine Eigenkomposition. Sie summt leise mit, und ich lehne mich an die Wand und beobachte sie, diesen Widerspruch auf zwei Beinen. Ihre Musik umgarnt mich, dringt in mich ein und versetzt mich zurück in die Zeit, als Tyler und ich frisch verheiratet waren, berauscht von Lust und Selbstsicherheit und voller Hoffnung auf alles, was das Leben für uns bereithielt. Eine Zeit, als unser Kokon noch intakt war. Manchmal trafen wir uns unter der Woche abends bei meinem Vater. Luanne beeilte sich, von der Krankenpflegeschule heimzukommen. Tyler besorgte auf dem Weg von der Arbeit noch schnell ein Sixpack. Mein Vater grillte draußen auf dem Hof riesige T-Bone-Steaks für uns, der Duft von gebratenem Fleisch drang verlockend durch die Fenster herein, und nachdem Darcy eine Riesenportion Eis verputzt hatte, spielte sie für uns. Manchmal Jazz, manchmal Mozart, manchmal Improvisationen – ihre Stimmung nahm in den Melodien Gestalt an, und durch ihre Musik erlaubte sie uns einen Einblick in ihr Innenleben. Was auch immer in ihrem verwirrten Hirn gerade vor sich ging, trat ans Licht. Und wir machten es uns in Dads Wohnzimmer gemütlich, lehnten uns auf der bequemen Couch zurück und hörten einfach nur zu. In diesen ungetrübten Augenblicken fiel es leicht zu glauben, dass das Leben aus Sonnenschein bestand. Oder wieder sonnig werden konnte. Vielleicht war es genau das: Wenn man alles nur wieder eng genug zusammensteckte, sah man die Risse nicht mehr, die sich aufgetan hatten, als alles kaputtging.
    Ich beobachte

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