Was im Leben zählt
andere Bettseite. Es landet auf Tylers Kopfkissen und macht von dort einen Satz auf den Fußboden.
Langsam, dann schnell und immer schneller klären sich in meinem Kopf all die Ereignisse, die seltsamen Visionen, die ständige Übelkeit, die mich so fertigmacht, die Anflüge schlechter Laune und ungewohnter Aufrichtigkeit. Nein, nein, nein, natürlich bin ich nicht schwanger! Das wäre viel zu einfach gewesen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Wie konnte ich mir selbst die ganze Zeit nur so in die Tasche lügen, mich selbst betrügen, als wäre eine Schwangerschaft die Antwort auf alles!
Vor meinem inneren Auge lasse ich den Traum von meinem Vater noch einmal Revue passieren, und dann denke ich über Tyler und diesen Umzugsanhänger und die Kisten nach, in denen unser ganzes gemeinsames Leben steckt, und plötzlich ist mir klar, was passiert ist. Ashley Simmons – ihr heuchlerisches, hinterhältiges, blasses, teigiges Gesicht – taucht vor mir auf, und ich bin absolut überzeugt, so überzeugt, wie ich überhaupt jemals von etwas gewesen bin , dass sie etwas in mir manipuliert hat. Mit ihrem selbstgefälligen Tonfall und dem ganzen Hokuspokus hat sie mir im Grunde ja wortwörtlich versprochen , mich zu verwandeln, mein Schicksal zu verwandeln! Ist das ihr Werk? Ja, ja, ja, ja, ja, ja! Ich will kotzen, ich will etwas kaputt machen, ich will ausflippen, ich will brüllen, mich prügeln, jemandem das Gesicht zerkratzen. Stattdessen nehme ich ein Kopfkissen und schleudere es durchs Zimmer. Es landet mit einem erbärmlichen Plopp auf dem Fußboden und repräsentiert nicht im entferntesten meine Angst, meine Verwirrung, meinen Zorn über das, was sie getan hat. Ashley Simmons mit ihrem bescheuerten Urteil über mein Leben ist schuld! Sie und ihr widerlich herablassendes Grinsen! «Ich gebe dir Klarheit!», hat sie gesagt! Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Das ist keine Klarheit , denke ich. Das ist ein Fluch.
Erst viel später, lange nachdem ich meinen zittrigen Gliedern einen Klamottenmischmasch übergeworfen habe, lange nachdem ich den Van irgendwie aus der Ausfahrt manövriert habe, lange nachdem ich im Geiste Tylers Worte und meine Vision und dann noch mal seine Worte abgespult habe, frage ich mich, was eigentlich der größere Fluch an der ganzen Geschichte ist: dass ich auf einmal in die Zukunft sehen kann, oder die Zukunft selbst, die ich auf einmal sehen kann.
Bumm! Bumm! Bumm!
Meine Knöchel treten weiß hervor, so heftig poche ich an Ashley Simmons’ Tür. Einer der Vorteile an einer Stadt wie Westlake ist, dass sich über die örtlichen, allgemein bekannten Klatsch- und Tratschkanäle selbst um halb zehn Uhr vormittags jeder x-beliebige Mensch in kürzester Zeit ausfindig machen lässt. Ein Anruf bei Susanna, von dort aus ein Anruf bei Eleanor Franklin, die ihrerseits einen Anruf bei Alyson Martin tätigte, und bis ich meinen Kaffee getrunken hatte, war ich im Besitz von Ashleys Adresse – eine runtergekommene Apartmentanlage, drei Blocks von der High School entfernt. Sie wohnt im zweiten Stock. Vom rostigen Geländer der Außentreppe blättert die Farbe ab, und der Blick geht hinunter auf den Müllcontainer. Vor ihrer Wohnungstür hängt eine kleine, zeichentrickhafte Pilzwolke aus Marihuanaschwaden.
Bumm! Bumm! Bumm!
Innen fängt es an zu rumoren, und gedämpft, wie von fern, murmelt jemand: «Moment! Herrgott noch mal!» Dann werden zwei Schlösser geöffnet, und die Tür schwingt auf.
«Wie spät ist es denn, verdammt?» Ashleys Haare türmen sich in einem wirren Knoten mitten auf dem Kopf, wie bei Pebbles von der Familie Feuerstein, ihr Gesicht ist verschmiert mit dem Make-up vom Vortag. Aber als sie den Blick hebt und sieht, wen sie vor sich hat, geht ein Ausdruck hellen Entzückens über ihr genervtes, verschlafenes Gesicht, als könnte sie sich an diesem frühen Sommermorgen keinen schöneren Anblick vorstellen. «Silly Tilly Everett! Ich hab mir schon gedacht, dass du irgendwann auftauchst!»
Selbst aus einem Meter Entfernung schlägt mir ihr fauliger Morgenatem ins Gesicht.
«Erstens: Hör auf, mich so zu nennen. Und zweitens: Was immer du mit mir angestellt hast, mach es weg !», zische ich. Da ist er wieder! Dieser Giftkäfer, der in mir brütet, dieser Stachel, den sie mit ihrem Fluch in mich hineingepflanzt hat. Dämliche, stinkige Ashley Simmons!
«Beeindruckend», sagt sie, als könne sie Gedanken lesen. «Ich wusste gar nicht, dass so was in dir steckt.
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