Was im Leben zählt
Süße, sanfte Tilly Everett. Wütend habe ich dich noch nie erlebt.» Sie lächelt gerissen, wissend. «Niemals. Nicht im Cheerleader-Training, nicht im Schülerrat, nicht ein einziges Mal … nie!» Sie kichert und treibt damit mein Missbehagen auf eine gefährliche, explosive Schwelle zu.
«Ich meine es ernst, Ashley! Du hast an meinem Hirn rumgepfuscht, in meinem Leben , und du musst es wieder in Ordnung bringen!» Der Drang, sie zu würgen, ist übermächtig.
«Ich habe nichts getan , Tilly.» Sie zieht eine Schnute. «Ich habe lediglich ein paar Kanäle geöffnet. Was auch passiert, es liegt alles an dir.» Nach einer kurzen Pause sagt sie mit gesenkter Stimme: «Und? Was passiert genau?»
«Ich kann in die Zukunft sehen! Ich sehe in die beschissene Zukunft!»
In meinen Achselhöhlen sammelt sich Schweiß. Das T-Shirt klebt mir am Leib.
«Und was siehst du?», fragt sie ruhig, im krassen Kontrast zu meiner Aufgelöstheit. «Was genau hat dich so aus der Fassung gebracht, dass du um diese unchristliche Zeit stocksauer vor meiner Haustür auftauchst?»
«Okay! Erstens, es ist zehn Uhr», zische ich so erbost, dass ich sie fast anspucke. «Und zweitens, sehe ich … Sachen … keine guten Sachen … Sachen, die ich verflucht noch mal nicht sehen will !»
«Und was kann ich dafür?» Sie zuckt die Achseln, und ich will sie prügeln, ihr mit der geballten Faust das Maul stopfen.
«Ich würde dir am liebsten mit der geballten Faust das Maul stopfen», belle ich, und sie fängt schallend an zu lachen. «Was ist so komisch daran?», schreie ich. «Ich finde das Ganze überhaupt nicht komisch!»
In der Nachbarwohnung öffnen sich hörbar die zwei Türschlösser, und ein fetter Kerl im schmutzigen Feinrippunterhemd steckt den Kopf zur Tür raus. Das Sonnenlicht spiegelt sich so auf seiner Glatze, dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
«Alles okay?», fragt er Ashley. Sie nickt, er nickt, bumm, klick, klack , Tür und Schlösser gehen zu, und er hat seiner psychopathischen Nachbarin – oder der psychopathischen Besucherin – wieder den Rücken gekehrt.
«Ich –», sagt sie und lacht inzwischen nicht mehr, obwohl das Zucken in ihren Mundwinkeln mich immer noch verhöhnt, «ich wusste ehrlich nicht, dass du so wütend sein kannst, Tilly. Hast du das gewusst?»
Ich halte tatsächlich inne, um nachzudenken. Nein, nein, so wütend bin ich normalerweise nicht. Ich bin kein Mensch, der anderen das Maul stopfen will. Das passt eher zu den Kids, die bei mir auf der Couch landen. Den Kids, denen ich weiterhelfe, die in mir ein Vorbild sehen, Himmel noch mal!
«Also, Ashley, du hilfst mir jetzt. Wenn du es versaust, komme ich wieder, und du wirst es bereuen», sage ich und zerre bedrohlich am Saum meines inzwischen völlig nassgeschwitzten T-Shirts. Feuchter Schweiß klebt mir am ganzen Körper: an den Schläfen, am Haaransatz, am Bauchnabel, an den Handgelenken.
Ashley fängt schon wieder an zu lachen, ein hohes, hysterisches Jaulen. Als wäre das, was ich gesagt habe, auch nur im entferntesten amüsant! «Tilly, kapier doch, dass du lediglich siehst, was sein wird. Das hat nichts mit mir zu tun oder damit, was ich getan habe. Komm schon, nimm’s locker. Ich habe nichts verändert. Ich habe überhaupt nichts verwandelt, nicht eine einzige Sache. Ich habe nur für Klarheit gesorgt, sonst nichts.»
Sie lächelt und entblößt dabei vollkommen ebenmäßige, strahlend weiße Zähne, ein Hinweis auf ihre bürgerliche Herkunft, auf eine Kindheit mit regelmäßigen Zahnarztbesuchen und Eltern, die Wert darauf legten, von Anfang an etwas gegen ihren Überbiss zu unternehmen.
«Wir sind noch nicht fertig miteinander!» Ich drehe mich um und gehe in Richtung Treppe davon.
«Wir sehen uns!», ruft sie und winkt mir mit ihren lila lackierten Fingernägeln hinterher. Lässig gegen den Türrahmen gelehnt, sieht sie mir nach. «Genieß es doch einfach! Wie wäre es denn damit, deine Gabe zu nutzen, ein paar Einsichten zu gewinnen, anstatt mich deswegen derart anzupflaumen?»
Ich quetsche mich hinter das Lenkrad, knalle, statt zu antworten, die Tür ins Schloss und werfe ihr einen allerletzten Blick zu. Sie steht immer noch da, dieses blöde Clownsgrinsen ins Gesicht geheftet, eine Drohung – wie eine Schlinge um meinen Hals –, die mich noch lange verfolgt, nachdem ich vom Parkplatz abgebogen und davongefahren bin.
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Zehn
N achmittags machen Susanna und ich uns auf den Weg zu Rektor
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