Was im Leben zählt
Umzug nach Seattle sonst lediglich das erste einer ganzen Kette von Ereignissen sein wird, an deren Ende unsere Trennung steht.
Getrocknet und geföhnt schnappe ich mir einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentresen, werfe zwei Tylenol ein, um den pochenden Blutstrom hinter meinen Ohren zu betäuben, schlüpfe leise zur Haustür hinaus und fahre in die Schule. Elis Kamera steckt in meiner Handtasche, prall gefüllt mit Erinnerungen – zur Abwechslung mal schönen. Ich lasse die Hand in die Innentasche gleiten und taste nach dem Ersatzschlüssel, den er mir gemacht hat. Ja, da ist er .
Der Parkplatz liegt verlassen. Nur vor der Turnhalle parken drei zerbeulte Autos; mit Sicherheit Sportler, die sich zu einer frühen Runde Gewichtestemmen aus dem Bett gequält haben. Ich gehe durch die einsamen Flure, lasse die Hand über die Metallspinde gleiten, lausche dem Echo der klappernden Vorhängeschlösser. Der Schlüssel passt. Die Tür zum Kunstsaal gibt widerstandslos nach. Ich bahne mir einen Pfad durch bekleckste Staffeleien und halbfertige Skulpturen, bis ich finde, wonach ich suche. Ganz hinten in der Ecke, wo früher meine geliebte Dunkelkammer war, führt eine halbgeöffnete Tür in eine vollgestopfte Kammer, in der jetzt zwei Computer vor sich hin summen und geduldig darauf warten, dass ich endlich den ersten Schritt in Richtung moderne Technologie unternehme.
Ich schließe die Kamera mit dem bereitliegenden Kabel an den Computer an, und der Bildschirm erwacht wie aus dem Koma. Die Bilder der Nikon wirken kristallin, gestochen scharf, lebendig in einer Weise, wie es mit meiner alten Linse niemals möglich gewesen wäre, überbordend von Details, die eine Wegwerfkamera – wie ich sie, wenn überhaupt, inzwischen benutze – niemals hätte einfangen können.
Ich sehe mir jedes einzelne Foto an. Die Motive werden zusehends freier, ungezwungener, was zweifelsohne dem flüssigen Gold zu verdanken ist, das durch meine Adern floss. Da gibt es eine Aufnahme von Susie in einem nachdenklichen, stillen Moment, den Blick in ihre Margarita gesenkt, als alle Tapferkeit von ihr abgefallen ist. Ein Bild von Eli, eine Grimasse schneidend, die herausgestreckte Zunge direkt in die Kamera gerichtet, das Lächeln trotzdem vollkommen. Eine Aufnahme von der begeisterten Menge – ich habe mich vor die Bühne gekauert und die Kamera auf das Publikum gerichtet –, verzaubert von Darcy und ihrem Talent; man sieht es in den Gesichtern, in den riesigen Augen.
Auf den meisten Bildern ist natürlich Darcy zu sehen. Darcy, den Mund weiter geöffnet, als ich es je für möglich gehalten hätte, eine besonders hohe Note schmetternd, das besungene Leid so sehr auskostend, dass es für jemanden, der sie nicht kennt, schon fast melodramatisch wirken könnte, für jemanden, der nicht weiß, dass das Leid zu ihr gehört wie der Sauerstoff zum Atmen. Darcy, über die Tasten gebeugt, die Finger wie elektrisiert, obwohl sie auf dem Bild natürlich eingefroren sind. Jeder einzelne Ton durchfährt ihren Körper wie eine Infusion für ihre empfindliche Seele. Darcy lächelnd, endlich lächelnd, als sie ihre Zugabe Luanne und mir widmet; ich habe sie in dem Augenblick im Profil erwischt, als sie den Kopf zu unserem Tisch umdreht, die Grübchen zeigend, die sich viel zu selten auf die fast immer ernsten Wangen wagen.
Ich bin so tief in den Anblick der Bilder versunken, dass ich nicht merke, wie sich hinter mir die Tür öffnet und wieder schließt.
«Hey, ich bin wohl nicht der einzige Frühaufsteher.» Ich drehe mich um und sehe Eli hinter mir, einen Alubecher Kaffee in der Hand, die Umhängetasche über der Schulter.
«Ich konnte nicht schlafen», sage ich.
«Ich schlafe nie», antwortet er, zieht sich einen Stuhl heran und wirft einen Blick auf die Bilder. «Aber es war toll gestern Abend. Vielen Dank noch mal. So viel Spaß hatte ich noch nicht, seit ich hergekommen bin.»
«So, wie du das sagst, klingt es, als wäre die Konkurrenz nicht sehr groß.» Ich lächle ihn an.
«Es wird langsam.» Er zuckt die Achseln, nicht unfreundlich. «Also. Brauchst du Hilfe? Es gibt unglaubliche Möglichkeiten bei der Bearbeitung von Digitalaufnahmen.»
«Ich vermisse die Dunkelkammer.» Ich wende mich wieder dem Bildschirm zu, nicht ohne seine zwei Tage alten Bartstoppeln zu bemerken. Seine grünen Augen wirken dadurch noch grüner. Ich komme mir fast untreu vor, bis mir Tylers eigener Treuebruch wieder einfällt, und ich schiebe die
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