Was im Leben zählt
Schuldgefühle rigoros beiseite. Wie du mir, so ich dir, Tyler Farmer! Es gehören immer zwei dazu und wie die Sprüche alle heißen!
«These times they are a-changin’», trällert er leise, steht auf und berührt meine Schulter. «Ich muss runter ins Lager, um die Bestände aufzufüllen, aber wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich finden kannst. Ich zeig dir gern ein oder zwei Sachen, die du damit anstellen kannst.»
Die Tür fällt zu, und seine Schritte verhallen. Ich starre eine neue Aufnahme von Darcy an, in dem Augenblick gemacht, als sie aufsteht, um sich zu verbeugen, den wohlverdienten Applaus zu ernten, auch wenn sie immer noch nicht im erträumten Rampenlicht von Los Angeles steht. Sie hat gemerkt, dass ich sie fotografiere, und die Augen just so weit aufgerissen, dass die Kamera den Glanz darin einfangen kann, ein gewitztes Lächeln in den Mundwinkeln. Und weil ich sie so gut kenne, weiß ich, was sie denkt. Welcome back, Tilly , denkt sie, und sie ist genauso stolz auf mich, weil ich die Liebe für etwas Abhandenes wiederentdecke, wie ich heute Abend stolz auf sie bin. Ich starre das Foto an. Die Wiederentdeckung meiner Leidenschaft für die Fotografie ist im Grunde keine große Sache, aber sie ist trotzdem mehr als nichts. Es ist nicht weniger als die Kehrtwende zurück zu jenem Ich, das mit dem Tod meiner Mutter verschwunden ist.
Ich fahre mit der Maus über die Unterlage, stöbere in der Unmenge an Bildern und bleibe bei dem Foto von Eli und seiner lächerlich herausgestreckten Zunge hängen. Er sieht doof aus, albern, aber ich kann es nicht ändern, ich will es gar nicht ändern , ich muss trotzdem lächeln. Und dann denke ich: Tja, was soll’s, warum nicht einfach mal nachsehen, was ich sehen kann? Was soll daran schon so schlimm sein? Also konzentriere ich mich, starre fest auf das Bild, zwinge mich zurück beziehungsweise vorwärts oder in welche Richtung auch immer, zwinge mich in seine Existenz hinein, und dann, dann ist er da, der leise rumorende Vorbote, der winzige Funke, der gleich durch mich hindurchschießen wird. Der Krampf schlängelt sich die Wade hinauf, an meinem Knie vorbei, fährt mir direkt durchs Herz, und weil ich weiß, was kommt, weil ich mich diesmal nicht unvorbereitet bezwingen lasse , halte ich mich an den Armlehnen fest, atme aus und mache mich bereit für den Trip. Wenn es mich schon überkommt , denke ich, ehe es um mich dunkel wird, kann ich mich genauso gut zurücklehnen, mich festhalten und gehen, wohin auch immer es mich trägt .
Der Triumphbogen ist haargenau so bezaubernd wie in meinen kühnsten Träumen. Majestätisch, hoch aufragend, solide und nur ein winziges bisschen plastikmäßig mit den künstlichen Steinblöcken und den aufgemalten Details. Trotzdem ist er der Hit, wie er da steht, am Kopfende der Turnhalle, zwischen dem Getränkestand und dem Buffet, das sich unter belegtem Baguette und Eclairs nur so biegt. Das ist das beste Prom-Night-Thema seit Jahren, denke ich von meinem Platz auf der Tribüne aus. Trotz der Tatsache, dass ich mal wieder aus dem Raum-Zeit-Kontinuum herausgerissen wurde, muss ich grinsen.
Die Discolichter zucken in schwindelerregendem Tempo, und die Schülerschaft hat die Tanzfläche in einen Hexenkessel verwandelt. Alle sind sie da: Die Neuen und der Abschlussjahrgang, von dem die meisten Schüler ihren Abschluss herbeigesehnt haben, obwohl sie genau wissen, dass ein Diplom an ihrem Leben nicht viel ändern wird – sie werden weiterhin mit aufgemotzten Pick-ups durch Westlake kreuzen, auf dem Bau arbeiten oder es bestenfalls irgendwo bis ins mittlere Management schaffen.
Sie springen im Gleichtakt auf und ab, zu einer Hip-Hop-Nummer, die ich nicht kenne. Für diese Musik bin ich endgültig zu alt.
CJ drückt sich in der Ecke herum, die typische, übellaunige Mischung aus Traurigkeit und Langeweile im Gesicht, die mindestens die Hälfte der Pubertät bestimmt, und unterhält sich mit Lindsay Connors, ihrer besten Freundin. Aus dem Ausschnitt ihres cremefarbenen Kleids sprießt ein Bouquet aus gelben Blüten, und sie erinnert mich in dem etwas zu engen Ballkleid mit den Riemchenträgern an ein Wickelkind, eine Mumie, einen gefüllten Pfannkuchen.
Ich sehe mich suchend nach Susanna um, aber entweder ist sie von der brodelnden Horde Teenager verdeckt, oder sie hat beschlossen, nicht zu kommen. Vielleicht sitzt sie zu Hause bei einem Glas Wein, vielleicht hat sie aber auch – und ich wundere mich, wie sehr ich mich für
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