Was im Leben zählt
Stimme vom Kissen erstickt. Es ist sowieso nur ein Krächzen, als hätten meine Stimmbänder sich mit der Tatsache eingerichtet, eine Weile nicht gebraucht zu werden.
«Nein. Steh auf. Du musst duschen, du musst raus aus diesem Haus, du musst etwas unternehmen.»
Ich ziehe mir das Kissen vom Gesicht.
«Sagst ausgerechnet du.» Unsere Blicke treffen sich. «Komm schon, leiste mir Gesellschaft. Gönn dir einen Schluck. Es ist noch genug da.»
Falls meine Reaktion, meine Herzlosigkeit, ihn überrascht hat, lässt er sich nichts anmerken. Vielleicht glaubt er, er hat es nicht anders verdient. Oder, und das liegt näher, er ist einfach daran gewöhnt, dass der Alkohol die nicht ganz so vorteilhaften Charakterzüge unserer Familienmitglieder zum Vorschein bringt. Bei ihm war es Gedankenlosigkeit, Abwesenheit, als wir ihn gebraucht hätten. Bei mir scheint es unverhüllte, brutale Ehrlichkeit zu sein.
Er quetscht seine Hände unter meine Achseln und zerrt mich zum Sitzen, faltet und klappt mich wie eine gelenklose Lumpenpuppe. Die Matratze wippt unter mir, und ich bin überrascht über seine Kraft, mit welcher Leichtigkeit er mich hochhebt. Mein Vater kniet sich hin. Die alten Gelenke knacksen laut.
«Hör mir zu», sagt er. «Das kannst du nicht tun. Dich zu betrinken und dein Leben wegzuschlafen ist keine Lösung. Nicht für dich.»
«Für dich war es doch auch okay.»
«Du bist aber nicht ich», sagt er und nimmt meine Hände.
«Tyler muss wiederkommen», sage ich. «Ich kann nicht mehr, wenn Tyler nicht wiederkommt.»
«Er kommt aber nicht wieder», sagt mein Vater. «Zumindest momentan nicht.»
Ich erinnere mich dumpf daran, dass ich Tyler am Mittwoch angerufen habe. Auf dem Weg von der Schule zum Schnapsgeschäft. Und dass er beim zweiten Klingeln rangegangen ist.
«Also stimmt es?», fing ich an. «Du tust mir das also wirklich an, ja?»
Er seufzte. «Hallo, Til.» Ich konnte hören, wie er die Luft einsog. «Es tut mir leid.»
«Das hast du mir bereits in deiner E-Mail gesagt. In deiner E-Mail !»
«Ich kann nicht nach Hause kommen.» Er sagte es so leise, dass ich jedes einzelne Wort im Kopf noch einmal wiederholen musste, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte.
«Du kannst ganz bestimmt nach Hause kommen! Du willst nicht nach Hause kommen! Aber ich bin hier! Ich! Deine Ehefrau! Deine Ehe! Dein Leben!»
«Ich muss es tun, Tilly. Ich habe versucht, es dir zu erklären.» Er verstummte. «Und es tut mir furchtbar leid, dass ich dir so wehtue. Ich wünschte, du könntest verstehen, wie ich mich fühle. Wie ich mich gefühlt habe.»
«Hier geht es um unsere Ehe, Tyler!» Ich bog mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz vom Einkaufszentrum ab, flog förmlich in eine freie Parklücke und bremste viel zu spät. Der Frontspoiler krachte gegen den betonierten Bürgersteig.
«Glaubst du etwa, das weiß ich nicht?», schrie er zurück. «Glaubst du etwa, es wäre mir leichtgefallen? Glaubst du, ich würde nicht lieber zurückkommen und mein Leben ändern?»
«Dein Leben ändern?» Mir blieb die Luft weg, mein Herz wurde so groß und schwer, dass es drohte den Brustkasten zu sprengen.
«Das habe ich nicht so gemeint», sagte er etwas sanfter.
Ich antwortete nicht darauf, weil ich wusste, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Denn je mehr er sich und mir eingestehen würde, desto mehr würde ich das Ausmaß seiner Unzufriedenheit begreifen, und ich hatte schon jetzt mehr gehört, als meine Seele ertragen konnte.
«So habe ich das nicht gemeint», wiederholte er. «Ich wollte nur sagen … ich wünschte, ich hätte früher etwas unternommen. Ich hätte mit dir reden müssen, aber jetzt habe ich das Gefühl, dafür ist es zu spät. Hier geht es mir besser, ich fühle mich klarer.»
«Sei still!» , hatte ich geschrien. «Sei einfach still! Halt einfach endlich dein verdammtes Maul!»
Was er tat und ich auch, und dann stopfte ich das Telefon ins Handschuhfach, stürmte in den Schnapsladen und entschied mich für die extragroße Vorteilsflasche Tequila.
Und jetzt kniet mein Vater vor mir auf dem Schlafzimmerboden und versucht mich davon zu überzeugen, ein Leben wieder zu ordnen, das ich nicht mehr wiedererkenne, ein Leben, das mich nicht mehr interessiert.
«Tilly! Die Sache ist so», sagt mein Vater und hebt mein Kinn, sodass ich ihm in die Augen sehen muss. «So zu werden wie ich ist ganz einfach. Nicht so zu werden ist viel schwieriger. Und das hier? Das bist du nicht. So willst du
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