Was im Leben zählt
unbedingt nötig, hat Darcy ihn schließlich zurück in sein Haus gefahren. Ich hatte mich völlig erschöpft ausgeklinkt, weil ich mich den ganzen Tag mit den Problemen anderer Leute rumschlagen musste und nicht mal mehr in der Lage war, den Versuch meines Vaters zu würdigen, seine Probleme selbst in den Griff zu kriegen. Darcy fuhr ihn, ohne zu murren, während ich ihnen vom Schlafzimmerfenster aus nachsah. Als ich nicht mehr als Puffer zwischen ihnen zur Verfügung stand, ist ihnen irgendwie ein Waffenstillstand gelungen. Wenn ich mich Müdigkeit vortäuschend nach dem Abendessen zurückzog, blieb sie widerwillig bei ihm sitzen, und wenn ich später am Abend noch mal aufs Klo ging, klang aus Tylers Zimmer tatsächlich ab und zu schallendes Gelächter, weil sie sich zusammen irgendeine hirnrissige Realityshow ansahen.
Ich setze Kaffee auf. Zwei Monate ist es her. Zwei Monate! Und ich drehe mich immer noch im Kreis und ertrinke in meiner Trauer.
Zwei Monate sind gar nichts, ein Wimpernschlag in der Zeit, ein vorbeiziehendes Wölkchen, und mit Sicherheit nicht genug Zeit, um die Überbleibsel eines ganzen Lebens zu betrauern – das würde ich zumindest Susanna sagen, wenn sie an meiner Stelle wäre. Ist sie aber nicht, da bin nur ich. Was immer Ashley Simmons auch in mir befreit hat, und das hat sie definitiv getan – ob Groll, Unverfrorenheit oder Ehrlichkeit –, ich bin immer noch Tilly Farmer, verdammt noch mal! Ich sehe der dunkelbraunen Flüssigkeit dabei zu, wie sie in die Kanne tröpfelt, und es ist fast greifbar, wie diese Dinge – die Wut, die Ehrlichkeit – wieder zum Leben erwachen und in mir zu brodeln beginnen. Reiß dich endlich am Riemen, Tilly Farmer! Komm in die Pötte! Hör endlich mit dem Selbstmitleid auf, ganz egal, was Tyler Scheiß-Farmer in dir kaputtgemacht hat! Damit hast du wirklich genug Zeit verschwendet. Ich könnte schwören, dass ich, wenn ich genau hinhöre, Ashleys Stimme erkenne.
Ich strecke mich nach einem Kaffeebecher, schenke ein, führe die dampfende Flüssigkeit an meine Lippen und nehme einen großen Schluck. Der Kaffee weckt meine Lebensgeister. Es ist höchste Zeit für Veränderung, für einen neuen Weg, eine neue Denkweise. Ja, vielleicht ist die Zeit jetzt endlich reif.
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Siebzehn
W ie sich herausstellt, ist der 7. September noch mehr. Au weia, stimmt! , denke ich, als ich auf den Schulparkplatz einbiege und den großen Anhänger mit dem Logo des Westlake Hospital entdecke. Die Blutspendeaktion. Ich hatte das Datum damals mit Absicht gewählt, zur Erinnerung an meine Mutter.
Ursprünglich war die ganze Sache Luannes Idee, letztes Jahr im Mai: Gibt es etwas Besseres zum Start ins neue Schuljahr, dachte sie, als die Kids für ihre Gesundheit zu sensibilisieren und ein Gefühl der Verantwortung für die Gemeinschaft, in der sie leben, in ihnen zu wecken, als sie zu bitten, gegen einen Riesenschokocookie einen halben Liter Blut zu spenden? Auch Tyler hatte die Idee unterstützt – damals. Als ich ihm davon erzählte, küsste er lächelnd meine Handfläche, ehe er sich wieder dem Sportkanal zuwandte.
«Du machst die Welt zu einem besseren Ort», hatte er gesagt. «Die Schule kann sich wirklich glücklich schätzen, dich zu haben.»
Damals dachte ich noch, ich könnte dasselbe über uns sagen, während ich ihn beobachtete, wie er vor dem Fernseher seine Cornflakes in sich hineinschaufelte; wie glücklich ich mich schätzte, ihn zu haben.
Ich stelle den Motor ab, gehe auf den Blutspendebus zu und kann mich der Frage nicht erwehren, ob Tyler damals schon seinen Ausstieg plante, als er zwar mit Komplimenten um sich warf, es aber vermied, mir dabei in die Augen zu sehen. Vielleicht hätte ich es merken müssen, überlege ich, denn wenn man Tyler auch vieles nachsagen kann, ein guter Lügner war er eigentlich nie.
Eine leichte Brise kommt auf, eine der letzten warmen Umarmungen des Spätsommers, und die milde Luft wärmt meine Schultern, mein Schlüsselbein, mein Innerstes. Nach zwei Monaten in diesem Nebel aus Einsamkeit dämmert mir tatsächlich, dass ich es vielleicht hätte erkennen müssen. Nicht als Vision, sondern direkt, an Tylers Distanziertheit, an der Art, wie er sich schleichend von mir entfernte wie die Ameise, die auf einmal einen Weg raus aus dem Bau entdeckt, als von oben ein Sonnenstrahl hineinfällt.
Die Tür des Anhängers steht offen, und ich gehe hinein. Sämtliche Stühle sind besetzt, was mich nicht wundert. Die
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