Was im Leben zählt
Premierenabend, an ihre Hand, die um die Hüfte eines Mannes geschlungen ist, und ich lächle sie mit aller Liebe an, die ich aufbringen kann, und versichere ihr, dass dem nicht so sein wird.
«Ich dagegen …» Ich verstumme.
«He, noch hat niemand was von Scheidung gesagt!»
Stimmt. Aber ich vermute, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Tyler das Thema anspricht, und dann werde ich einfach weniger werden, wie Kreidefelsen, der ins Meer gespült wird. «Weißt du was?», sagt Susanna. «Du solltest dir diese schicke Kamera schnappen, die der schnuckelige Kunsttyp dir gegeben hat.»
«Sicher nicht!»
«Doch, solltest du», sagt sie und beißt den Faden durch. «Zur Dokumentation, verstehst du?»
«Was? Um zu dokumentieren, wie zwei traurige Häuflein Elend versuchen, ein Musical auf die Beine zu stellen?»
«Nein. Um das Comeback von zwei traurigen Häuflein Elend zu dokumentieren, die für die Arschlöcher, mit denen sie zusammen waren, eigentlich von Anfang an viel zu gut gewesen sind.»
«Deine positive Einstellung ist bewundernswert», sage ich, ehe ich die Treppe bei der linken Bühne hinunterschleiche. («Bühne links!», hat Wally mich gestern erst korrigiert. «Es heißt Bühne links, nicht linke Bühne, Ms. Farmer, das sollten Sie inzwischen eigentlich wissen.») «Aber ich bleibe doch eher bei meiner Hausmarke Selbstmitleid.»
«Das ist aber nicht die Tilly Farmer, die ich kenne», ruft sie mir nach. Stimmt, denke ich, und verlasse den Zuschauersaal, aber vielleicht eine, die schon die ganze Zeit in mir gelauert hat wie Krebs und nur den richtigen Zeitpunkt abgewartet hat .
Susanna hat natürlich recht. Wahrscheinlich würde mir eine Fotodokumentation tatsächlich Auftrieb geben, aber ich habe die Kamera wieder beiseitegelegt. Ich gehe Eli aus dem Weg, so gut ich kann, auch wenn er mir im Flur immer mit dieser Ungezwungenheit zuwinkt, die ihn so sympathisch macht, obwohl er ab und zu bei mir anklopft und den Kopf ins Zimmer streckt, nur um Hallo zu sagen, und ich immer so tue, als sei ich schwer beschäftigt. Die Vision mit ihm war meine letzte Zukunftsschau, zumindest die letzte absichtliche. Nach dem Treffen mit Ashley und nachdem endgültig klargeworden ist, dass Tyler nicht zurückkommen wird, habe ich schließlich begriffen, dass alles, was ich sehe, mit unauslöschlicher Tinte geschrieben ist. Die Last zu wissen, was die Zukunft bringt, ohne daran irgendwas ändern zu können, ist einfach zu groß. Vor zwei Wochen, während Eli zur Mittagspause aus dem Haus war, habe ich die Kamera zurückgebracht.
Am nächsten Tag, dem vierten im neuen Schuljahr, werde ich vom Radiowecker wach. Ich höre dem Geplänkel der Moderatoren zu, dann den Verkehrsmeldungen, dann den Nachrichten, und dann höre ich das Datum. Heute ist der 7. September: Heute vor zwei Monaten hat Tyler mich verlassen. Auch wenn er mich nicht direkt verlassen hat, kann man den Tag, an dem er Jamie Rosato erwähnt hat, ruhig trotzdem als den Tag der Trennung bezeichnen. Der 7. Juli. An diesem Tag ist alles ins Wanken geraten. Ganze zwei Monate sind seitdem vergangen, zwei Monate, in denen ich unter Wasser trieb, beinahe blind und fast taub. Mich gegen die Welt zu betäuben war für mich der leichteste Weg.
Der viel zu fröhliche Moderator geht mir auf die Nerven, und ich schalte das Radio aus. Ich versuche, mich auf meine Liste für heute zu konzentrieren: Prom? CJs Bewerbung? Aber da ist rein gar nichts. Nur der trübe Schwindel, der einen befällt, wenn man Kopf voraus ins tiefe Beckenende springt und zum Boden taucht.
Aber da war doch noch mehr – dieser Tag hatte doch noch eine andere Bedeutung, oder? Ach ja! Es ist der Todestag meiner Mutter. Darcy wird mich anflehen, mit ihr auf den Friedhof zu fahren, und ich werde sie – natürlich – begleiten. Und ich werde mich daran erinnern, dass ich zumindest noch am Leben bin, dass ich mich, Tyler hin oder her, weiter im Kreis drehen kann, bis ich an meinem eigenen Unglück ersticke, dass ich aber auch, so unwahrscheinlich es auch sein mag, die Leinen, die mich gefangen halten, kappen und endlich ans Ufer schwimmen kann.
Im Haus ist es ganz still, als ich in die Küche tappe. Wann ist mein Vater eigentlich wieder nach Hause gezogen? Gestern? Vorgestern? Letzte Woche? Ich schüttle den Kopf. Alles ist so durcheinander. Er ist inzwischen seit über sechzig Tagen trocken, ein Meilenstein, wenn auch ein kleiner, und obwohl er drei Wochen länger hiergeblieben ist als
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