Was im Leben zählt
andere es tun würden, einfach weiterzulabern. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er versteht, dass alle Menschen ab und zu die Maske sinken lassen müssen, sogar die, die nach außen hin scheinbar immer alles im Griff haben.
«Wir sind da», sagt er nach dem nächsten Song, den ich zwar kenne, aber nicht einordnen kann. Er stellt den Motor ab, und ich zwinge mich, die müden Augen zu öffnen. Fast wäre ich eingeschlafen.
«Wo sind wir?» Ein paar hundert Meter weiter liegt ein verlassener Autorastplatz, den ich von meinen Fahrten nach Seattle kenne, und direkt neben Elis Wagen liegen ein paar zerbrochene Bierflaschen.
«An einem alten Wanderweg. Ich habe ihn vor ein paar Wochen entdeckt.» Wir werfen gleichzeitig die Autotüren zu. «Ich wollte für einen Tag raus aus der Stadt, und da habe ich Scotty Hughes nach ein paar abgelegenen Wanderrouten gefragt. Sein Tipp lag noch ein bisschen weiter die Straße runter, und auf dem Weg habe ich dann das hier entdeckt.»
«Scotty Hughes? Der Typ, der die Kantine führt?» Der eben in diesem Moment mit Susanna in der Aula hockt und die Kulissen neu malt?
«Ja, genau, der. Die Kantine betreibt er nur, um ein geregeltes Einkommen zu haben.» Eli macht einen Schritt von geteertem Untergrund auf das holprige Gelände. «Am Wochenende macht er Extremsport. Ziemlich ehrgeizige Sachen.»
Mit gerunzelter Stirn verdaue ich die Erkenntnis, dass Menschen, deren Oberfläche man bereits seit Jahren kennt, durchaus unentdeckte Schichten haben können, dass man das Glück – Susannas, meins, wessen auch immer – selbst dann noch entdecken kann, wenn man der sicheren Überzeugung ist, dass es einen endgültig verlassen hat, und sei es über den Umweg in die schäbige alte Schulkantine.
«Na komm», sagt Eli. «Und vergiss die Kamera nicht.»
Ich steige vorsichtig über einen Haufen abgebrochener Äste. Während wir hintereinander den laubbedeckten Pfad hinaufgehen, der inmitten der wuchernden Natur kaum auszumachen ist, bin ich überwältigt von der Erleichterung, dass zur Abwechslung mal jemand anderes die Führung übernimmt. Ich nehme den Deckel von der Linse und stecke ihn vorsichtig in die Jackentasche. Atem und Puls sind im Gleichklang. Meine Muskeln haben, um ehrlich zu sein, unter den letzten Wochen auch ziemlich gelitten, und meine Oberschenkel fangen jetzt schon an zu brennen. Meine Beine machen sich offensichtlich über mich lustig. Oh Gott, das werde ich am Wochenende büßen müssen.
Ab und zu dreht Eli sich zu mir um, um nachzusehen, ob ich auch nicht hingefallen bin, wenn er nicht gerade auf den Auslöser drückend gebückt hierhin und dorthin kriecht und mit verrenktem Kopf die Kamera in die ideale Position bringt. Schließlich bekomme ich meinen Atem wieder unter Kontrolle, und dann tue ich genau dasselbe – ich verliere mich hinter der Linse. Und während wir durch dieses unberührte Waldstück streifen, ist es unmöglich, nicht an jene Tage zu denken, als meine Mutter so krank war und Darcy und ich in den Wald flüchteten und versuchten, ihr ein Stückchen davon mit nach Hause zu bringen.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind, als Eli auf einmal hektisch in meine Richtung winkt und flüsternd versucht, mich auf etwas aufmerksam zu machen.
«Schau!», raunt er beinahe unhörbar und deutet auf eine kaum erkennbare Senke zu unserer Linken. Meine Augen versuchen, in dem Dickicht aus Blättern und Zweigen etwas zu erkennen. Ich sehe nur wildes Grün. Doch dann vollzieht mein Gehirn auf einmal die richtige Leistung, ähnlich wie bei den 3-D-Bildern, und auf einmal ist das Bild so klar, dass ich nicht fassen kann, dass ich es nicht von Anfang an gesehen habe.
Inmitten eines Nestes aus zerbrochenen Zweigen und getrocknetem Schlamm liegt ein Rehkitz, die Augen geschlossen, die staksigen Beine eingerollt, und schläft.
Wie in Zeitlupe hebt Eli den Fotoapparat und drückt den Auslöser.
«Wo ist die Mutter?», flüstere ich, als hätte Eli die Antwort. Er zuckt die Achseln, eine winzige Bewegung, als könnte schon das Heben der Schultern diesen Augenblick zerstören.
Ich möchte näher ran, um einen besseren Winkel zu haben. Ich schleiche vorwärts, Zentimeter für Zentimeter, ganz langsam. Das Rehkitz rührt sich nicht. Doch dann werde ich übermütig, bewege mich etwas schneller, fasziniert von diesem unglaublichen, verstohlenen Einblick ins Innerste der Natur.
Plötzlich gibt der Boden unter mir nach. Weil ich den Blick fest auf das schlafende
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