Was im Leben zählt
Tier gerichtet habe, dauert es geschlagene drei Sekunden, bis mein Nervensystem meinen Körper eingeholt hat. Ich stolpere, die Hände fliegen vor, der Fotoapparat ist längst zu Boden gefallen. Mit dumpfem Schlag lande ich auf der Seite, und ein Zweig schnellt mir ins Gesicht.
«Alles okay?» Eli eilt zu mir. Seine Kamera schwingt um seinen Hals wie ein Uhrpendel.
Ich sehe nach hinten und entdecke ein ziemlich großes Erdloch, das von Zweigen und Laub verdeckt gewesen ist.
«Das Loch!», sage ich atemlos, erschrocken und verlegen zugleich. «Ich habe es überhaupt nicht gesehen.» Das Rehkitz ist natürlich verschwunden, Hals über Kopf in den Wald geflohen. Meine Wange brennt, ich presse die Hand dagegen, und als ich meine Finger betrachte, sind sie voller Blut.
«Himmel!», sagt Eli und geht in die Hocke. «Du blutest ja.»
«Das ist nichts», sage ich und setze mich auf. Mein linker Knöchel pocht, und ich glaube, ich habe mir das Knie verdreht.
«Das ist nicht nichts!», antwortet er und kramt in seinem Rucksack herum, bis er eine Serviette gefunden hat. «Hier, was anderes habe ich nicht.» Er lächelt und zuckt entschuldigend mit den Achseln.
«Du hast ja auch bestimmt nicht mit einem Unfall gerechnet.» Ich lächle zurück, nehme die zerknitterte Papierserviette und drücke sie mir gegen die Wange.
«Ach. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.» Er fegt mit den Händen ein paar Blätter zur Seite und setzt sich neben mich.
«Ich auch. Tut mir leid wegen dem Reh.»
Er winkt ab. «Du hattest ein Motiv vor der Linse, das du unbedingt haben wolltest.»
Schweigend bleiben wir nebeneinander sitzen und lauschen auf die Stille des Waldes. Ab und zu knackt irgendwo ein Zweig, Vögel rufen einander etwas zu, und manchmal huscht ein Eichhörnchen an uns vorbei, in sicherer Entfernung, versteht sich.
Schließlich deute ich an, dass ich bereit bin weiterzulaufen, also steht Eli auf, reicht mir eine kräftige, sichere Hand und zieht mich auf die Beine. Dann bahnen wir uns unseren Heimweg.
Der Zuschauerraum ist voll – wie ich bereits wusste –, und bis jetzt ist die Show ohne nennenswerte Pannen über die Bühne gegangen. Gut, bis auf ein oder zwei Kleinigkeiten vielleicht – der Vorhang, der gleich zweimal auf halbem Weg hängengeblieben ist; der launische Scheinwerfer, der links auf die Bühne gekracht ist und bei Look at Me, I’m Sandra Dee fast eine der Pink Ladies enthauptet hätte; Wallys allgegenwärtige, schlaffe, übereifrige Jazz Hands – aber ich bin trotzdem ein kleines bisschen stolz, ein bisschen euphorisch wegen allem, was wir auf die Beine gestellt haben.
CJ stolziert über die Bühne, inhaliert ihre Nelkenzigarette, wirft sie zu Boden, tritt sie mit dem Fuß aus. Sie hat die Verwandlung vollzogen, die, obwohl sie für keinen im Publikum unerwartet kam, schockierend ist – vom guten Mädchen zum verruchten Mädchen, inklusive hautenger Latexhose und ausgeschnittenen Tanktops.
«Sandy!», ruft Wally.
«Tell me about it, stud!», antwortet sie.
Darcy und ihre fröhlichen Mitmusikanten stimmen das Intro ein, mein Fuß wippt im Takt, und die Freude steht mir wahrscheinlich breit ins Gesicht geschrieben.
«I’ve got chills, they’re multiplying! And I’m losing control!» , kräht Wally und fällt auf die Knie, haargenau so, wie Phillip McKinley damals vor Susie auf die Knie fiel, damals, als wir alle noch frei von den Narben waren, die die Zukunft uns beibringen würde. «Cause the power, you’re supplying, it’s electrifying!»
Das Publikum hat angefangen zu jubeln, ein Echo unserer Gedanken, denn in den letzten beiden furiosen Stunden waren diese Kids nahezu perfekt. Gegenüber von mir, auf der anderen Seite der Bühne, steht Susie. Sie reckt die Daumen in meine Richtung und muss sich auf die Lippen beißen, um herunterzuspielen, wie verdammt perfekt es war und wie richtig ich vielleicht doch mit meiner Wahl gelegen hatte. Und das, obwohl ich mich zwischendurch verlaufen habe, obwohl ich ihr und Darcy im Grunde sämtliche Details überlassen und erkannt habe, dass ein Highschool-Musical – oder eine Highschool-Prom-Night – die Tonart des Soundtracks des Lebens nicht verändern kann. Und dennoch. Irgendetwas verändert sich, und sei es auch nur für einen Moment, zwei flüchtige Stunden lang.
«You’re the one that I want, the one that I want» , singt CJ, und Wally gibt zurück: «Ohh-ohh-ohh. The one I need, oh yes indeed.»
Ich erwidere Susannas Grinsen, und dann
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