Was ist Demokratie
autoritäre Regime, sondern auch auf demokratische Staatsführungen. Ein Bürger fühlt sich in seinen Rechten verletzt und wendet sich an die zuständige Ombudsfrau, die Vertrauen genieÃt und in das Rad des Verwaltungshandelns eingreifen kann. Ein demokratisch gewähltes Parlament hat einen Beschluss gefasst â sei es über eine Schulreform oder über einen Bebauungsplan â, doch es regt sich Protest. Ein Runder Tisch tritt zusammen und erarbeitet einen Kompromiss, dem das Parlament zustimmt.
Solche politischen Konflikte und Verfahren gehören inzwischen zum Alltag der Demokratie. Manchmal verfügen sie, wenn man genauer hinsieht, über eine lange historische Tradition, doch überwiegend sind es ziemlich neuartige Mechanismen, die erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten entstanden sind. Jedenfalls haben sie erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine zentrale Stellung im demokratischen Prozess erobert und sich, jenseits vieler einzelner Elemente, zu einem Ensemble neuer Demokratie verdichtet. Was verbindet die genannten Beispiele überhaupt? Ihr Ausgangspunkt ist immer die Aktivität von Bürgerinnen und Bürgern jenseits des Handlungsfeldes der repräsentativen Parteiendemokratie: Es geht nicht um Parteimitgliedschaft oder Stimmabgabe, auch nicht um die Ãbernahme eines Amtes oder Mandates in Partei oder Staat. Vielmehr ist der Staat häufig der Adressat des bürgerschaftlichen Handelns; man möchte ihm Offenheit, Bürgernähe oder die Achtung von Menschenrechten abringen. Mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement, häufig auch mit einer gewissen Staatsskepsis, setzen solche Formen der Politik die partizipatorische Demokratie fort, die sich in den Protestbewegungen der 1950er bis 1970er Jahre etabliert hatte, von der Bürgerrechtsbewegung in den USA über die Neue Frauenbewegung bis in die Umwelt- und Friedensbewegungen. Aber ziviler Ungehorsam, Sit-In und StraÃendemonstration sind nicht mehr die wichtigsten Handlungsmuster, und statt für die eigene Besserstellung und Emanzipation kämpft man häufig für die Rechte von Dritten, deren Sprachlosigkeit diese neue Politik eine Stimme verleiht.
Diese Veränderung der Demokratie ist so neu, dass ihr sogar eine Bezeichnung fehlt â jedenfalls auÃerhalb der Wissenschaften, als einprägsamer Begriff der öffentlichen Debatte. Im Englischen spricht man jetzt öfters von einer «monitory democracy» oder einer «advocacy democracy».Das könnte man als Demokratie der Kontrolle und anwaltschaftliche (oder advokatorische) Demokratie übersetzen: Demokratie ist, wenn Bürgerinnen und Bürger ihren Staat kontrollieren und transparent machen; Demokratie ist, wenn Bürgerinnen und Bürger sich für ihre eigenen Rechte, aber mehr noch für die Schwächerer oder der Allgemeinheit einsetzen. Damit werden repräsentative Demokratie und klassische Gewaltenteilung, wie sie für Deutschland im Grundgesetz verankert sind, ebenso wenig ausgehebelt wie durch andere Weiterentwicklungen, zum Beispiel die Stärkung direkter Demokratie. Aber von einer bloÃen Ergänzung kann man inzwischen nicht mehr sprechen, weil diese Neuerungen tief in die Wirkungsweisen der klassischen Demokratie eingreifen und dabei sind, sie nachhaltig zu verändern.
Nicht zufällig ist die globale Politik jenseits der Nationalstaaten besonders früh ein Ansatzpunkt für diese Veränderungen gewesen. So stützte sich das Engagement der Vereinten Nationen in der Entwicklungspolitik von Anfang an auf nichtstaatliche, zivilgesellschaftlich getragene Vereinigungen, denen Artikel 71 der UN-Charta Beraterstatus für den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen gab. Hier findet sich auch der Ausdruck «Nichtregierungsorganisationen», der nach dem englischen Begriff meist als «NGO» abgekürzt wird. Teils eng mit der Entwicklungshilfe verknüpft, bildet die Menschenrechtspolitik seit den 1970er Jahren eine zweite wichtige Arena für die NGOs. Sie konnten zum einen unabhängiger agieren als nationale Regierungen und â zumal in der Zeit der Blockkonfrontation bis 1990 â leichter das Vertrauen der Zielländer erwerben. Zum anderen warf das globale Nord-Süd-Gefälle Gerechtigkeitsfragen jenseits der klassischen «sozialen Frage» der Industrieländer auf und motivierte die gebildeten Mittelschichten des Westens, sich für
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