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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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war mehr als nur formelles Recht und formeller Akt – eine regelrechte Kultur der Partizipation entstand, die zum Beispiel in den revolutionären Festen und Umzügen zum Ausdruck kam. Die politische Informiertheit auch einfacher Leute nahm sprunghaft zu; man las Zeitung, diskutierte, stritt über Kandidaten: Dass sich Menschen für Politik interessieren, ist ja nicht selbstverständlich, aber eine wichtige Voraussetzung von Demokratie. Und schließlich gehörte zu dieser Veränderung des Alltags auch ein neues Bewusstsein der Gleichheit. Man musste zu anderen Menschen nicht mehr so aufsehen wie früher, nur weil sie vermeintlich höher geboren waren. Und diejenigen, die oben waren (und oft dort blieben), konnten Politik nicht mehr machen, ohne das früher als Pöbel verachtete Volk zumindest ins Kalkül zu ziehen.
    Obwohl die Amerikanische Revolution weniger als die Französische eine Gleichheitsrevolution war, bewirkte sie einen deutlichen Schub, gerade für den Egalitarismus im Alltag. Dass es einen Geburtsadel in den britischen Kolonien ohnehin nicht gegeben hatte, erwies sich dabei als Vorteil. Aber trotzdem hatten sich die einfachen Leute gegenüber den Gebildeten, Besitzenden und politisch Einflussreichen – der «better sort», wie man sagte – unterwürfig und ehrerbietig zeigen müssen: am Arbeitsplatz, in der Begegnung auf der Straße, im Laden oder vor Gericht. Die Revolution beseitigte die Ungleichheiten nicht, aber sie erschütterte diese Haltung und ihre Praxis in zahllosen Situationen. Ein einfacher Schuhmacher in Boston konnte das verspüren und beschreiben. Auch viele Frauen der Mittel- und Oberschicht gewannen ein neues Selbstbewusstsein, auch wenn sie mit ihrer neuen republikanischenRolle erst ausnahmsweise in die Öffentlichkeit vordrangen und zumeist auf die häusliche Sphäre beschränkt blieben. In den nördlichen Staaten zerbröckelten die Reste der Sklaverei; im Süden blieb dieser eklatante Widerspruch zu einer demokratischen Gesellschaft bestehen. In den Jahrzehnten nach der Revolution, in das frühe 19. Jahrhundert hinein, setzte sich die Transformation des Alltags oft beschleunigt fort, zumal in den von europäischer Siedlung neu erschlossenen Gebieten im Westen, fernab – nach damaligen Maßstäben und Kommunikationsverhältnissen! – von der mehr hierarchischen Gesellschaft der Atlantikküste. Man sagt oft, die USA seien in der Revolution republikanisch, aber erst in der Generation danach demokratisch geworden, jedenfalls im Sinne einer weißen Männerdemokratie.
    In ganz ähnlicher Weise politisierte die Französische Revolution und schuf eine Kultur der Partizipation, die in einem spezifischen «Staatsbürger»-Gedanken wurzelte. Der egalitäre Impuls setzte sich noch klarer, vor allem aber anders durch. Die Abschaffung der Sklaverei hatte in Westeuropa nur begrenzte Bedeutung, strahlte aber nicht zuletzt nach Amerika, in die französische Karibik, aus. Wichtiger war der Kampf gegen die jahrhundertealten europäischen Hierarchien, gegen die Aristokratie – und die katholische Kirche. Selbst der oberste Adlige: der König, sollte nur noch einfacher Bürger sein und wurde noch in der Hinrichtung zum «Bürger Louis Capet» degradiert. Dieses Motiv einer radikalen Egalität in Namen und Anrede setzte sich später in der Arbeiterbewegung fort, mit der «Genossen»-Anrede und dem verbindlichen Duzen. Auch der Angriff auf die katholische Kirche hatte zum Teil antifeudale Wurzeln, die in der «Säkularisation», der Enteignung bzw. Nationalisierung der Kirchengüter, zum Ausdruck kamen. Es ging aber auch darum, jede Quelle einer legitimen Ordnung zu beseitigen, die mit der neu proklamierten Volkssouveränität, und seit 1792 mit der Republik, konkurrierte. Und gerade das betraf nicht nur die formelle Rechts- und Herrschaftsordnung, sondern die Ordnung des Alltags. Deshalb wandten sich die Jakobiner zunehmend gegen christliche Feste und Rituale; kurzzeitig versuchte Robespierre, dagegen einen staatsreligiösen «Kult des höchsten Wesens» zu etablieren. Etwas dauerhafter war die Erfindung eines ganz neuen Kalenders, dessen Zählung nicht bei Christi Geburt, sondern mit dem Beginn der Republik als Jahr I einsetzte, dem Jahr der Natur entlehnte Monatsnamen gab und den Monat, aufklärerisch-rational, in drei Zehntagesperioden

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