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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Verfassung zufrieden oder wollte man mehr: die Republik, soziale Gleichheit? Zugleich prägte das geschichtsphilosophische Modell der Aufklärung mit seinem Entwurf eines «Fortschritts» in der Geschichte diese Lager- und frühe Parteibildung nachhaltig, besonders in Kontinentaleuropa. Wer diesen Fortschritt begrüßte und aktiv befördern wollte, war seitdem progressiv oder «links», wer ihm skeptisch gegenüberstand und die Traditionen erhalten wollte, war konservativ oder «rechts». In der Mitte bewegten sich die Liberalen: «juste milieu», die richtige Mitte, nannte man das im 19. Jahrhundert, bald auch abwertend für die vermeintliche Halbherzigkeit des Fortschritts.
    Parteien dienten also dazu, abweichende Meinungen zu artikulieren, Widerstand gegen die Obrigkeit auszudrücken und ein politisches Programm voranzutreiben, das nicht von allen geteilt wurde. Bis heute sammeln Parteien die Meinungen und Interessen einzelner Bürgerinnen und Bürger, konzentrieren und aggregieren sie. Geht es dabei eher um Meinungen, Überzeugungen – oder um handfeste ökonomische Interessen? Steht die frei gewonnene Gesinnung des Einzelnen im Vordergrund oder seine gesellschaftliche Position, aus der sich eine bestimmte Parteipräferenz mehr oder weniger ableiten lässt? Ideen oder Interessen – das lässt sich nicht mehr im Sinne einer klaren Alternative, eines Primats des einen oder des anderen entscheiden. Für Marx und in seiner Tradition bilden Parteien Interessen von sozialen Klassen ab. Der Liberalismus, dessen Aufstieg Marx beobachtete, war für ihn vor allem Ausdruck, gar politische Fassade, des Klasseninteresses der Bourgeoisie. In der hochindustriellen Klassengesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat diese Interessenbindung tatsächlich eine sehr große Rolle gespielt, für die sozialistischen Parteien ebenso wie für Mittelstandsparteien in der Weimarer Republik.
    Aber ihre Bedeutung ist in der «postmateriellen» Konsumgesellschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geschrumpft, und überhaupt misst die Wissenschaft heute kulturellen Traditionen oder religiösen Überzeugungen mehr Eigengewicht zu, wenn es darum geht zu erklären, warum jemand sich zu einer bestimmten Partei oder politischen Richtung bekennt. Das Gewicht von Interessen stand jedoch, längst vor Marx, vielen politischen Denkern des 18. Jahrhunderts klar vor Augen,weil sie, mit Adam Smith, eine arbeitsteilige kommerzielle Gesellschaft heraufziehen sahen, aus der die Verschiedenheit von Interessen unvermeidlich folgte. Für James Madison gründete sich auf dem Zusammenspiel dieser «interests» – von Kaufleuten oder Farmern, Handwerkern oder Plantagenbesitzern – sogar die Balance der neuen amerikanischen Republik. Beides: Gesinnung und Interesse, Idealismus und Utilitarismus, formt bis heute in komplizierten Mischungen die Bindung an Parteien. Das wusste im Grunde schon David Hume, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts die beiden britischen Parteien als «mixed parties» bezeichnete, «influenced both by principle and by interest».
    In jedem Fall bilden Parteien nur Teilmeinungen und Teilinteressen ab – das Wort Partei bedeutet nichts anderes als «Teil» (vom lateinischen «pars»). Deshalb erfüllen sie eine wichtige, schwer verzichtbare praktische Funktion. Denn das Gegenteil von Parteien wäre insofern entweder, dass sich Meinungen nicht bündeln – dann hätte jeder zu jeder Streitfrage seine eigene Meinung. Das funktioniert in einer kleinen, direkten Abstimmungsdemokratie, aber kaum in größeren Gesellschaften. Parteien sind damit auch Orientierungspunkte, die den Einzelnen politisch entlasten: Wenn man einer bestimmten Grundüberzeugung folgt, sich als Sozialist oder Konservativer oder Liberaler versteht, muss man sich nicht zu jeder Einzelfrage ein Urteil bilden, sondern vertraut sich einer Partei an, aus deren größerem Weltbild sich die Position in Detailfragen und neuen Problemen jeweils ableiten lässt. Eine große Anzahl von Parteien ist zwar prinzipiell wünschenswert, aber sie macht Entscheidungsprozesse nicht einfacher und das Regieren nicht stabiler. Weil man in der Zersplitterung des Parteiensystems eine Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik sah, wurde 1953 die Fünf-Prozent-Hürde in ihrer heutigen Form für die

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