Was ist mit unseren Jungs los
in der Schule nicht mit rechten Dingen zugehe, und ein Jugendlicher äußerte selbstsicher, dass in der Schule noch viel schlimmere Dinge passierten! Das Dorf war geschockt. Der Reporter der Tagesschau wollte einen Lehrer zu einer Stellungnahme bewegen, leider ohne Erfolg. Im Fernsehbericht wurde der Lehrer trotzdem gezeigt. Man sah ihn, wie er seine Hände über den Kopf hielt und sie schüttelte, während er über den Pausenhof flüchtete. »Niemand der Lehrerschaft war bereit zu einer Aussage«, lautete der Kommentar des Tagesschausprechers trocken. Das feige Verhalten der Lehrerschaft wurde im Dorf zu einem Thema. Verschiedene Eltern und eine politische Partei verlangten von der Schulbehörde, dass Sofortmaßnahmen ergriffen würden und natürlich meldeten sich die üblichen Lösungsapologeten mit Kommunikationstrainings, Empathieförderungsprogrammen und Peace-Kursen.
Nach einer Woche stellte sich heraus, dass weder das Mädchen, noch die beiden Jungen aus dieser Gemeinde stammten! Sie hatten gar nichts mit der Schule oder Gemeinde zu tun, sondern hatten nach einer Motorradfahrt rein zufällig dieses Schulhaus gewählt. Es war auch nicht klar, ob es sich wirklich um eine Vergewaltigung oder einvernehmlichen Sex handelte. Die Behörde, mein Institut 69 und die Polizei informierte sogleich die Bevölkerung in der Hoffnung, dass sich die Situation in der Gemeinde beruhige. Wir täuschten uns gewaltig! Eine Welle der Empörung schlug uns entgegen. Unsere Aussagenwürden klar beweisen, dass wir das Thema Gewalt in der Schule nicht ernst nehmen, ein Ablenkungsmanöver starten und uns um unsere Verantwortung drücken. Inzwischen habe sich doch herausgestellt, dass solche Vorfälle in ihrer Gemeinde auch möglich seien und vieles sich im Verborgenen abgespielt habe! Schließlich könnte sich doch ein solcher Vorfall in ihrer Schule auch ereignen und hatten doch inzwischen Jugendliche und Eltern von ähnlichen Vorfällen berichtet!
Sobald ein Gewaltereignis medial verbreitet wird, haben wir es nicht mehr unter Kontrolle. Es wird eine Dynamik ausgelöst, der weder durch Fakten noch durch neutrale Berichterstattung beizukommen ist. Die Öffentlichkeit ist launisch, irrational und ungerecht. Wird ein Gewaltvorfall manifest, ertönt einhergehend mit einer gewissen Lüsternheit nach Empörung auch schon der Schrei nach Rache. Vor allem friedliche Gesellschaften dürsten periodisch nach Aufregung, einem Skandal oder einer öffentlichen Brandmarkung. Man will wieder mal jemanden »hängen« sehen und schnell wird der Ruf nach dem Schafott laut. 70 Das Thema dient als Ventil, um Emotionen loszuwerden, so wie früher öffentliche Enthauptungen oder das Verbrennen von Katzen ein öffentlicher Akt war. Tatsachen oder Berichtigungen haben meist keine Chance, wahrgenommen zu werden.
Bei der medialen Verbreitung von Gewaltvorfällen müssen wir in drei Kreisen denken. Sie entsprechen der Dynamik und der Qualität der Berichterstattung eines Vorfalles. Beim innersten Kreis handelt es sich um den Mikro-Kreis eines Gewaltakts. Zu ihm werden die direkt Beteiligten des Vorfalls gezählt. Es handelt sich um jene Personen, die unmittelbar an dem Gewaltakt beteiligt waren; Opfer, Täter und Zeugen. Sie haben den Gewaltakt tatsächlich erlebt, wurden gekränkt, verletzt oder sogar traumatisiert.
Beim zweiten Kreis handelt es sich um jene Menschen, die einen persönlichen Bezug zu den Personen des Mikrokreiseshaben. Es kann sich um die Eltern, Freunde oder die Lehrer der Jugendlichen handeln. Sie sind auch vom Vorfall betroffen, doch waren sie nicht unmittelbar beteiligt. Der Sohn erzählt seinem Vater, wie er ausgeraubt wurde oder eine Lehrerin hört von zwei Jugendlichen ihrer Klasse, was sie auf dem Pausenhof erlebt haben. Die Personen im Meso-Kreis sind mit den persönlichen Eigenschaften, den Stärken und Schwächen der unmittelbar Betroffenen vertraut. Sie wissen, dass ein Junge eher introvertiert ist und ein anderer dazu neigt zu übertreiben. Sie werden meist direkt von den Betroffenen über den Vorfall informiert.
Zum dritten Kreis werden Personen gezählt, die weder in den Gewaltakt involviert waren, noch Täter, Opfer oder Zeugen persönlich kennen. Zum dritten Kreis rechnet man Menschen, die in der gleichen Gemeinde wohnen, das Schulhaus kennen, die gleiche Schule besuchen, jedoch keinen oder einen nur sehr losen Kontakt zu Betroffenen haben. »Ist das der Junge mit den roten Haaren?«, wird eine Frau des dritten Kreises oder
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