Was ist mit unseren Jungs los
Makro-Kreises nach einem Vorfall fragen. Sie wird nicht unmittelbar von den Betroffenen informiert, sondern erfährt indirekt von dem Gewaltvorfall. Ein Nachbar, andere Eltern oder die Lehrer überbringen die Neuigkeit. Zum dritten Kreis gehören auch Polizei und Presse. Auch sie erfahren nicht über persönliche Beziehungen vom Vorfall, sondern werden später eingeschaltet. Sie müssen nachträglich herausfinden, was wirklich geschehen ist; Tatbestände aufnehmen und Zeugen interviewen. Ihre Informationen beruhen auf Nacherzählungen von ihnen wenig vertrauten Personen. Ein Journalist macht ein Interview mit einem betroffenen Jugendlichen oder die Polizei führt eine Befragung in einem Polizeiposten durch. Im dritten Kreis ist die Stimmung oft aufgeheizt und die Personen sind moralisch aufgeladen. Alle reden aufgeregt vom Vorfall, sind empört und fordern Maßnahmen. Die Interviews und Befragungen finden zudem in künstlichen Situationenmit Personen statt, die nicht aufeinander eingestimmt sind. Ein Jugendlicher wird von einem Polizisten in einem seelenlosen Raum der Wache befragt, was er sich eigentlich gedacht habe oder dass er sofort mit der ganzen Wahrheit herausrücken solle. Vorurteile, Ängste und Enttäuschungen liegen in der Luft und beeinflussen die Interaktionen. An die Personen, die Verhöre durchführen, wird die Erwartung gestellt, dass sie sofort Ergebnisse liefern und Schuldige benennen. Taten werden erwartet. In einer solchen Atmosphäre kann es zu krassen Beurteilungsfehlern kommen. Aus der Geschichte weiß man, dass die Gefahr der Fehlurteile und falschen Beschuldigungen droht. 71 Da die Personen des dritten Kreises nicht mit den Betroffenen und Umständen vertraut sind, kommt es zu falschen Einschätzungen. Bei einer Befragung redet ein Jugendlicher von den »Scheiß Schweizern« und provoziert durch seine Coolness. Für einen Außenstehenden ein klares Zeichen einer ruchlosen Haltung und möglichen Mitschuld. Vielleicht verhält sich der Jugendliche immer so und gefällt sich in seinen provokativen Gesten. Wer nicht regelmäßig mit Jugendlichen zu tun hat, ist jedoch erstaunt über die Wortwahl und den Auftritt. Zum dritten Kreis werden auch nationale oder lokale Fernsehstationen und Zeitungen gerechnet. Sie sind auf der Suche nach Themen, die interessieren und die bereits in aller Leute Mund sind. Sie eilen zu den Tatorten und stehen oft unter großem Zeitdruck. Bis zu Redaktionsschluss müssen sie etwas im Kasten haben oder eine spannende Story abliefern. Die meisten Journalisten wie auch die Beamten versuchen ihrer Arbeit seriös nachzugehen und sind sich der Schwierigkeiten einer objektiven Information bewusst. Fehler geschehen meistens unbewusst oder aus mangelnder Vertrautheit mit dem Kontext, der Verhaltensweise der Jugendlichen oder Problematik des Themas.
Je nach Kreis bekommt ein Gewaltvorfall eine andere Qualität . Die Menschen, die sich im innersten Kreis eines Gewaltvorfallesbefanden, haben oft eine unklare Vorstellung vom Ereignis. Da sie direkt betroffen sind oder zu Zeugen wurden, ist ihre Wahrnehmung verzerrt . Wenn man zu einem Teil eines Gewaltszenariums wurde, dann kann man nicht mehr objektiv über das Geschehen berichten. Die Wahrnehmung ist eingeschränkt, weil man am Boden liegt oder sich hinter einer Türe versteckt. Man verlässt die nüchterne, besonnene Haltung und gerät in einen eigentümlich zwiespältigen Zustand. Oft beschäftigt man sich mit doofen, unwichtigen Details. »Muss ich jetzt meine Jacke in die Reinigung bringen? Die hat doch über das Wochenende zu«, geht einem durch den Kopf, als man das eigene Blut auf der Jacke sieht, oder man befürchtet, dass man einen Strafzettel wegen einer abgelaufenen Parkuhr bezahlen muss, weil man wegen dieses Vorfalls nicht weg kann.
Wie bei kriegerischen Ereignissen werden das Denken und die Wahrnehmung der Beteiligten eines Gewaltszenariums egozentrisch und einseitig. Die Wahrnehmungsverengung, die typisch für den konflikthaften Zustand ist, hat zur Folge, dass man nur einzelne Details an sich oder der Umgebung wahrnimmt. Die Emotionalisierung hat zudem zur Folge, dass die eigene Befindlichkeit in den Vordergrund rückt. Man kämpft mit der eigenen Angst oder wird aggressiv und sieht nur noch rot. Vielleicht beschäftigt man sich auch vor allem mit den eigenen Verletzungen. Man liegt am Boden und ist geschockt. »Als die Frau mich zu Boden schlug und auf mich einschlug war ich völlig perplex«, erzählte eine
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