Was ist mit unseren Jungs los
Zugbegleiterin. »Ich spürte den kalten Boden, den Dreck und nahm das gleißende Licht einer Lampe wahr, während die verrückte Frau auf mir saß und auf mich einschlug!« Solche Gewaltvorfälle werden zu einem persönlichen Ereignis, das aufwühlt, betroffen macht oder sogar traumatisiert. Man fühlt sich gedemütigt und in seiner Würde betroffen. Außenstehende können später noch so versichern, dass die Verletzungen gering sind und derAngreifer gestört, einen Angriff erlebt man trotzdem als eine persönliche Katastrophe. Ein körperlicher Angriff auf die persönliche Integrität löst Scham und Beklemmung aus, objektiv über das Ereignis zu berichten, ist sehr schwierig. Man sieht nur noch Sympathisanten oder Ignoranten um sich, wenn man von seinem Vorfall berichtet. Oft reagieren Menschen, die sich während dem Vorfall im innersten Kreis befanden, komplexhaft . Der Vorfall wird automatisch mit einem persönlichen Thema oder einem vergangenen Ereignis assoziiert. Man erkennt im Angreifer eine Geringschätzung der Frauen, wie man sie beim Ex-Mann erfahren hat oder glaubt nun den Beweis faschistoider Gewalt vor sich zu haben.
Die Personen, die zum zweiten Kreis gehören, haben zum Vorfall eine nüchternere Einstellung. Natürlich fühlen sie sich auch betroffen, reagieren verärgert und verängstigt, doch im Gegensatz zu den Personen im inneren Kreis waren sie nicht unmittelbar und direkt betroffen. Sie haben vom Vorfall gehört von Personen, die ihnen bekannt sind. Interessanterweise können sie den Hergang des Vorfalls oft genauer schildern als die Personen des Mikrokreises. Bei Schulschießereien in den USA geben die Schüler und Schülerinnen, die am betreffenden Tag die Schule krankheitsbedingt oder weil sie schwänzten, nicht besuchten, den wahrheitsgetreueren Bericht vom Hergang der Schießerei als die Schüler des Mikrokreises. Dieses Phänomen kennt man von Kriegen: Die Soldaten, die hinter der Front lagen, konnten oft viel detaillierter und genauer von Schlachten erzählen als die Soldaten an der Front. Während die Frontsoldaten sich nur an Rauch, Lärm, unangenehme Gerüche, Anstrengungen, Verletzungen und die eigenen Ängste erinnern, können die Soldaten hinter der Front aus den Informationsfetzen, die sie erreichen, ein Gesamtbild herstellen. Da sie mit den Leuten des ersten Kreises liiert sind und sie persönlich kennen, können sie die Informationen auch gewichten. Sie erkennen den Persönlichkeitsfaktor in einer eigenenAussage und können zwischen Aussagen und persönlichem Kommunikationsstil differenzieren. Wenn Bernd von einem fürchterlichen Lärm und unglaublichem Kopfweh berichtet, dann muss man alles um den Faktor 3 dividieren. Da Bernd zu Übertreibungen neigt und außerdem leicht hypochondrische Persönlichkeitszüge aufweist, kann man seine Berichte nicht ganz wörtlich nehmen. Personen des zweiten Kreises erkennen darum oft klarer, ob es sich um einen wirklich gravierenden Vorfall handelt oder nur um eine kollektive Hysterie. Bei der Abklärung eines Vorfalles oder einer Situationsanalyse sind sie darum unbedingt auch hinzuzuziehen.
Die Personen des dritten Kreises hatten vor dem Vorfall keinen oder nur einen losen Bezug zu den Personen des zweiten oder ersten Kreises. Sie kommen neu hinzu. Sie müssen sich aufgrund ihres Berufes oder ihrer Position mit dem Fall beschäftigen oder werden durch die Medien oder den Stadtteilsklatsch auf das Ereignis aufmerksam. Fast immer hat ein Vorfall an Dramatik gewonnen, wenn er beim dritten Kreis angekommen ist. »Ich möchte mit Ihnen über die Schlägerei reden, die Sie letzte Woche in der Schule mit einem Studenten hatten«, informierte mich der Rektor des Seminars, an dem ich einen Kurs für angehende Erzieher gab. Mit ernster Miene begrüßte er mich in seinem Sprechzimmer und eröffnete mir, dass er mit mir über den gravierenden Vorfall auf der Treppe reden müsse. Er fügte hinzu, dass er Schlägereien zwischen Lehrern und Studenten nicht dulde und man seine Studenten auf andere Weise disziplinieren müsse. Ich war ziemlich erstaunt über seine Vorwürfe, auch weil ich eigentlich nicht mit körperlicher Gewalt auf meine Studenten losgehe. Es zeigte sich jedoch rasch, dass seine Anschuldigungen auf Gerüchten beruhten. Vor einer Woche hatte mich ein Student laut angeschrien, nachdem ich eine Arbeit von ihm abgelehnt hatte. Das hatte sich im Korridor der Schule abgespielt, der Student war ganz außer sich gewesen. Die Szene war von
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