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Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Titel: Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Hoerster
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also genau dann, wenn ich morgens das Zimmer betrete, stets von neuem aus dem Nichts kommt und Gestalt annimmt, und dass er immer dann, wenn ich das Zimmer verlasse, wieder ins Nichts verschwindet?
    Können wir unter diesen Umständen aber auch wirklich sagen, dass ich
weiß,
dass der Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer steht? Prüfen wir im einzelnen die in Kapitel 1 für jede Art von Wissen genannten Voraussetzungen: Ohne Zweifel besitze ich den Glauben (im Sinn einer festen Überzeugung), dass in meinem Arbeitszimmer ein Schreibtisch steht. Ist dieser Glaube aber auch wahr, und bin ich außerdem in diesem Glauben gerechtfertigt?
    Beginnen wir mit der zuletzt genannten Voraussetzung für mein Wissen. Ob ich in meinem Glauben gerechtfertigt bin, dürfte in erster Linie davon abhängen, wie häufig und wie eindeutig meine Sinneswahrnehmungen in der Vergangenheit diesen Glauben schon bestätigt haben. Natürlich ist es
denkbar,
dass mein Glaube auf einer Halluzination oder Sinnestäuschung beruht. Aber muss ich realistischerweise mit dieser Möglichkeit wirklich rechnen? Das dürfte auf die näheren Umstände des Falles ankommen.
    Wenn ich ein Mensch bin, der zu Halluzinationen neigt, und wenn der Schreibtisch neu ist und ich ihn in meinem Arbeitszimmer bloß einmal kurz gesehen zu haben glaube, da ich ihn erst gestern gekauft habe, bin ich in meinem Glauben kaum gerechtfertigt. Denn es könnte ja der Fall sein, dass der Schreibtisch mir erst morgen geliefert wird, dass ich mir jedoch in Vorfreude auf seinen Besitz schon heute eingebildet habe, ihn vor mir zu sehen. Wenn ich jedoch davon ausgehen kann, dass ich den Schreibtisch in der Vergangenheit schon mehr als tausendmal gesehen und an ihm gesessen und gearbeitet habe,
und
dass ich in der Vergangenheit noch nie irgendwelche Halluzinationen gehabt habe,
und
dass auch meine Frau den Schreibtisch immer wieder gesehen hat,
und
dass seit Jahren niemand in meinem Arbeitszimmer war, der den Schreibtisch eigenhändig hätte entfernen können,
dann
bin ich in meiner Überzeugung, dass in meinem Arbeitszimmer ein Schreibtisch steht, ohne Zweifel vollauf gerechtfertigt.
    Unter welchen Bedingungen lässt sich nun mit Recht sagen, dass mein genannter Glaube auch wahr ist, dass damit also alle drei Voraussetzungen für mein entsprechendes Wissen erfüllt sind? Diese Frage ist, wie wir schon sahen (S. 23), vom Standpunkt dessen aus zu beantworten, der das Urteil über mein Wissen oder Nichtwissen in der fraglichen Angelegenheit abgeben möchte. Nur insofern ich selber dieses Urteil abgebe («ich weiß, dass …»), darf ich von der Wahrheitdes betreffenden Glaubens offenbar genau dann ausgehen, wenn ich zu dem Glauben auch berechtigt bin. Wenn jedoch ein anderer dieses Urteil abgibt («Hoerster weiß, dass …»), muss dieser andere den Fall von
seinem
Standpunkt und
seinen
Erkenntnismöglichkeiten aus prüfen. Falls er selber meinen Schreibtisch nicht wahrgenommen hat und sich deshalb entweder auf meine oder auf die Wahrnehmungen Dritter verlassen muss, muss er natürlich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ihm falsche Auskünfte über diese angeblichen Wahrnehmungen gegeben wurden.
    So hat er sicher dann keinen guten Grund, die Wahrheit meines Glaubens anzunehmen und mir das entsprechende Wissen zuzuschreiben, falls seine Informanten (ich eingeschlossen) ihm als Lügner bekannt sind und falls er weitere Informationen über irgendwelche Wahrnehmungen des Schreibtisches nicht erhalten kann. Natürlich kann es sein, dass mein Glaube trotzdem wahr ist. Dies lässt sich aber immer nur vom Standpunkt desjenigen aus beurteilen, der ein Urteil über das fragliche Wissen abgeben möchte und der sich deshalb sein eigenes Urteil über die Wahrheit des betreffenden Glaubens bilden muss.
    Wir können aufgrund der Mitteilungen von Informanten aber nicht nur Aussagen über das Wissen
anderer
Menschen machen. Wir können aufgrund solcher Mitteilungen natürlich auch Aussagen über das
eigene
Wissen machen. So weiß ich etwa, dass gegenwärtig in Deutschland weniger als einhundert Millionen Menschen leben – auch ohne alle Bewohner Deutschlands jemals gesehen und gezählt zu haben. Und ich weiß, dass es auf der Südhalbkugel der Erde einen Kontinent namens «Australien» gibt, der größer als Europa ist –obschon ich diesen Kontinent nie mit eigenen Augen gesehen, geschweige denn vermessen habe.
    Wieso bin ich berechtigt, diese Annahmen zu machen und sie für wahr zu halten?

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