Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
auch auf die Zukunft. Das heißt: Ich habe keinen Zweifel daran, dass mein Schreibtisch auch zukünftig Tag und Nacht in meinem Arbeitszimmer stehen wird – sofern ihn niemand dort entfernt oder sofern in meinem Haus nicht etwa ein Brand ausbricht. Ich gehe also auch hier – wie im Fall des regelmäßigen Sonnenaufgangs – davon aus, dass die Natur bzw. die Wirklichkeit nicht sozusagen «verrückt spielt», dass sie sich nicht plötzlich total verändert und ohne erkennbare Ursache eine ganz neue Gestalt annimmt.
Wieso aber kann ich wirklich
wissen,
dass in meinem Arbeitszimmer morgen früh statt meines Schreibtisches nicht etwa ein Cembalo oder ein Hundekäfig oder auch gar nichts stehen wird? Und wieso kann ich etwa wissen, dass es morgen in meinem Wohnort, wo es gestern und heute 10 Grad minus waren, nicht 30 Grad plus sein werden?
Nun, ich gehe, um es noch einmal zu sagen, einfach davon aus, dass jene Gesetze und Regelmäßigkeiten, die bislang gegolten haben, auch weiterhin gelten werden. Ich folge insofern der sogenannten
induktiven Methode
des Denkens. Und bisher hat es sich ja offenbar bewährt, genau so zu verfahren.Es wäre mir gewiss nicht gut bekommen, wenn ich heute morgen in der Annahme, die Temperatur werde an diesem Januartag auf 30 Grad plus steigen, das Haus in Sommerkleidung verlassen hätte. Spricht also nicht alles dafür, an jener induktiven Methode, die sich bisher bewährt hat, auch weiterhin festzuhalten?
Doch wer so argumentiert, argumentiert zirkulär: Er begründet die induktive Methode mithilfe der induktiven Methode. Denn woher kann ich wissen, dass eine Methode, die sich bisher bewährt hat, sich auch in Zukunft bewähren wird? Auch hier schließe ich ja offensichtlich aus vergangener Erfahrung auf zukünftige Erfahrung. Dass mein Schluss sich in diesem Fall nicht auf diese oder jene einzelne Regelmäßigkeit der Wirklichkeit, sondern auf ein methodisches Vorgehen als solches bezieht, ändert daran nichts. So oder so gehe ich davon aus, dass es vernünftig und gerechtfertigt ist, aus etwas Vergangenem auf etwas Zukünftiges zu schließen. Wie aber kann ich im Vorhinein wissen, was die Zukunft bringen wird? Ja, wie kann ich auch nur als
wahrscheinlich
annehmen, was die Zukunft bringen wird? Denn dass die bisherigen Regelmäßigkeiten weiterhin bestehen bleiben, dass also die Sonne auch morgen wieder aufgehen wird, kann ich aus meinem bisherigen Wissen ebensowenig als wahrscheinlich wie als sicher logisch ableiten.
Es gibt seit Jahrzehnten eine angesehene Gruppe von Philosophen – sie bezeichnen sich als «kritische Rationalisten» –, die auf ungewöhnliche Weise glauben, das Induktionsproblem bewältigen zu können. Diese Philosophen behaupten nicht nur (ausgehend von der oben angestellten Überlegung), die induktive Methode lasse sich nicht rechtfertigenund sei deshalb als irrational zu verwerfen. Sie behaupten außerdem zu unserem Erstaunen, dieses Ergebnis sei auch nicht weiter bedauerlich, da wir sehr gut ohne die induktive Methode auskommen könnten. Wieso glauben diese Philosophen, wir könnten ohne die induktive Methode auskommen?
Nun, die «kritischen Rationalisten» meinen, wir seien berechtigt, allgemeine Gesetze oder Regelmäßigkeiten über die Wirklichkeit zu formulieren und zu vertreten, auch ohne dafür auf entsprechende vergangene Erfahrungen zurückgreifen zu können. Es sei in Wahrheit völlig gleichgültig, auf welchem Weg wir zu unseren Gesetzesannahmen gelangt seien. Entscheidend sei allein, dass wir solche Annahmen zum einen richtig verstünden und zum anderen mit ihnen, nachdem wir sie gemacht hätten, richtig umgingen. Solche Annahmen könnten nämlich unter
keinen
Umständen mit irgendeinem Wissensanspruch verbunden werden. Insbesondere die induktive Methode, die gar keinen Erkenntniswert besitze, könne solche Annahmen ebenso wenig begründen wie eine beliebige Spekulation oder Vermutung. Man könne solche Annahmen so oder so keinesfalls als wahr erweisen oder «verifizieren».
Trotzdem seien solche Annahmen für unsere Wissensgewinnung ganz unverzichtbar, nämlich als Vermutungen oder «Hypothesen», die man zwar niemals als wahr erweisen oder «verifizieren», wohl aber unter Umständen als falsch erweisen oder «falsifizieren» und damit widerlegen könne. Deshalb sei es völlig legitim, ganz beliebige Gesetzeshypothesen, sofern nur
im Prinzip
falsifizierbar, über die Wirklichkeit aufzustellen, sie auf ihre
tatsächliche
Falsifizierbarkeit hin
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