Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
zutesten und an ihnen, solange sie nicht falsifiziert wurden, unbeirrt festzuhalten.
Angenommen also, ich stelle die beiden folgenden Hypothesen auf.
Hypothese 1:
Das Trinken von Biotee hilft gegen Durst.
Hypothese 2:
Das Trinken von Biotee hilft gegen Kopfschmerzen.
Der «kritische Rationalist» K wird diese beiden Hypothesen, ohne nach einer Begründung für sie zu fragen, zunächst einmal als gleichermaßen akzeptabel zur Diskussion stellen. Dann wird er nach Beispielen Ausschau halten nicht etwa für ihre Bestätigung, sondern für ihre Widerlegung. Da Hypothese 1 vermutlich auch nach einhundert Testversuchen nicht widerlegt worden ist, wird K sie weiterhin akzeptieren. Hypothese 2 dagegen wird K verwerfen, sobald sie, wie zu vermuten, in einem konkreten Fall erfolgreich widerlegt werden konnte. Nun nehmen wir an, ich habe festgestellt, dass im Fall der Widerlegung von Hypothese 2 ein Bio-Pfefferminztee getrunken wurde. Das bringt mich dazu, zwar Hypothese 2, wie gefordert, fallenzulassen, dafür aber die folgende neue Hypothese aufzustellen.
Hypothese 3:
Das Trinken von Biotee, der kein Pfefferminztee ist, hilft gegen Kopfschmerzen.
Nun muss K mit seinen Testversuchen offenbar wieder genau wie vorher verfahren – nur dass anstelle von Hypothese 2 jetzt Hypothese 3 getreten ist. Das heißt: Hypothese 1 ist,obschon sie einhundert Testversuche erfolgreich bestanden hat, keineswegs besser begründet als Hypothese 3. Denn die induktive Methode, die natürlich für Hypothese 1 – nicht aber für Hypothese 3 – sprechen würde, ist nach Ks Auffassung ja ebenso irrational wie überflüssig. Das Testverfahren beginnt also wieder von vorn.
Das bedeutet: Für Hypothese 1 geht es einfach weiter wie bisher. Denn K will ja selbst nach eintausend erfolgreichen Testversuchen keinerlei Sicherheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit anerkennen für die Richtigkeit der Hypothese bzw. dafür, dass der nächste Testversuch
nicht
ein Fehlschlag wird, der Hypothese 1 – so wie zuvor schon Hypothese 2 – zum Scheitern bringt. Und ich werde, nachdem natürlich, wie zu vermuten, inzwischen auch Hypothese 3 gescheitert ist, K weiter herausfordern und – ganz entsprechend der vorherigen Hypothese 3 – nunmehr wieder eine neue Hypothese, Hypothese 4 formulieren. Ein Ende dieser Prozedur scheint nicht absehbar zu sein.
Schon dieses Beispiel dürfte zeigen, dass das Begründungsdenken des «kritischen Rationalisten» sich jedenfalls von dem Begründungsdenken des Durchschnittsmenschen sehr stark unterscheidet. Denn dieser würde schon nach wenigen Testversuchen wohl kaum noch Hypothese 1, was ihre Überzeugungskraft angeht, immer wieder mit Hypothese 2 bzw. mit jeder ihrer Nachfolgerinnen auf ein und dieselbe Stufe stellen. Er würde, so nehme ich an, vielmehr Hypothese 1 – nach einer gewissen Anzahl erfolgreicher Testversuche – als begründet akzeptieren und gleichzeitig allen weiteren Hypothesen, solange sie keinen einzigen Test mit Erfolg bestanden haben, eine deutliche Absage erteilen. ZumBeleg für diese Auffassung mag auch die folgende Hypothese dienen.
Hypothese 4:
Bei einer Temperatur von drei Grad minus kann man zu Fuß über einen gefrorenen See gehen.
Sollte man vernünftigerweise wirklich versuchen, diese Hypothese zu falsifizieren? Zwar würde die Hypothese dem Versuch einer Falsifizierung in manchen Fällen wohl standhalten – wenn die Temperaturen um den See an den vergangenen Tagen etwa bei minus 15 Grad lagen. In anderen Fällen aber würde die Falsifizierung vermutlich Erfolg haben – allerdings auf Kosten des Lebens oder der Gesundheit der Testperson. Würde in Wirklichkeit aber nicht jeder vernünftige Mensch, bevor er die Hypothese zu testen unternimmt, erst einmal
positive
Hinweise für ihre
Richtigkeit
haben wollen? Würde hier also nicht jeder vernünftige Mensch durchaus nach einer
Verifizierung
der Hypothese – einer Verifizierung durch die induktive Methode – Ausschau halten und sein konkretes Verhalten vom Erfolg einer solchen Verifizierung abhängig machen?
Aber noch ein weiterer Grund spricht gegen das Modell der «kritischen Rationalisten». Er zeigt, dass das Modell nicht einmal in sich stimmig ist. Nehmen wir einmal an, die obige Hypothese 2 wurde falsifiziert: In einem konkreten Fall hat das Trinken von Biotee
nicht
gegen Kopfschmerzen geholfen. Dann ist damit in der Tat die angenommene Gesetzmäßigkeit, wonach das Trinken von Biotee stets gegen Kopfschmerzen hilft, definitiv
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