Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
entsprechenden Höhe in den Tod gesprungen sein sollten, so könne es sich dabei nur um Selbstmörder gehandelt haben, die gar keine Anstrengungen gemacht hätten, unter dem richtigen Einsatz ihrer Arme im Gleitflug auf der Erde zu landen. Schließlich könnte ich auch noch anführen, dass ich schon bei vielen Gelegenheiten einen weitaus besseren Gleichgewichtssinn als andere Menschen bewiesen hätte, der mir, wovon ich als Hypothese sicher ausgehen dürfe, bei meinem Versuch von vornherein ganz andere Erfolgsaussichten als dem Durchschnittsmenschen verschaffen würde.
In Wirklichkeit würde natürlich kein «kritischer Rationalist» so oder ähnlich argumentieren, um dann anschließend in den Tod zu springen. Er würde seiner Hypothese doch wohl allenfalls dann Vertrauen schenken, wenn er sie vorher – etwa durch Landungsversuche auf einem ausreichend weichen Untergrund – hätte
verifizieren
können.
Beispiel 2.
Nehmen Sie an, Sie haben eine lebensgefährliche Krankheit. Seit ein paar Jahren gibt es jedoch ein Medikament x, das bei rechtzeitiger Anwendung bisher in sämtlichen, nämlich mehreren tausend Fällen die Krankheit erfolgreich besiegen konnte. Das Medikament kostet 200 Euro, die Sie, da nicht versichert, selber tragen müssten. Nun ist jedoch seit kurzem ein alternatives Medikament y auf dem Markt, von dem der Hersteller behauptet, es sei genauso wirksam wie Medikament x. Dieses Medikament y kostet nur 180 Euro; allerdings liegen von ihm bislang noch keine Testergebnisse vor. Würden Sie es unter diesen Umständen auch nur ernsthaft in Betracht ziehen, sich für Medikament y zu entscheiden? Ich glaube, kaum; Sie würden Medikament y doch wohl nur dann vorziehen, wenn dieses Medikament etwa ebenso viele Tests erfolgreich bestanden hätte wie Medikament x.
Ich überlasse es dem Leser, sich weitere Beispiele auszudenken, in denen wohl jeder von uns der induktiven Methode gegenüber der Falsifizierungsstrategie beliebiger Hypothesen deutlich den Vorzug geben würde. Wir betrachten die induktive Methode in unserem alltäglichen Verhalten also gewiss nicht als überflüssig, sondern im Gegenteil als unverzichtbar.Ist die induktive Methode aber nicht trotzdem unbegründbar und somit irrational? Müssen wir unser gewöhnliches Vorgehen also, wenn wir der Vernunft folgen, nicht grundlegend revidieren?
Ich möchte nun zu zeigen versuchen, dass die induktive Methode zwar wirklich unbegründbar, aber trotzdem nicht unvernünftig oder irrational ist. Dass die induktive Methode als solche durch Argumente nicht begründbar ist, haben wir weitgehend schon gesehen (S. 61 ff.). Entscheidend ist: Ein logisch gültiges Argument kann uns in seiner Schlussfolgerung zwar unter Umständen etwas vermitteln, was wir in seinen Prämissen noch nicht offen erkannt haben. Doch objektiv betrachtet, kann die Schlussfolgerung eines solchen Arguments nichts beinhalten, was nicht auch in seinen Prämissen schon enthalten ist. Die Schlussfolgerung eines logisch gültigen Arguments kann zwar weniger, aber nie mehr als die Prämissen besagen.
Die induktive Methode jedoch besteht ja darin, dass sie zu Ergebnissen führt, die über den objektiven Informationsgehalt der Prämissen deutlich hinausgehen. Denn die Prämissen beziehen sich allein auf vergangene Ereignisse (wie die bisher wahrgenommenen Sonnenaufgänge). Die Schlussfolgerungen jedoch beziehen sich auf zukünftige Ereignisse (sei es auf sämtliche Sonnenaufgänge überhaupt oder auf sämtliche noch zu erwartenden Sonnenaufgänge). Das bedeutet: Die Schlussfolgerungen lassen sich definitiv
nicht
auf logisch gültige Weise aus den Prämissen ableiten. Ja, die induktive Methode lässt sich nicht einmal durch ihren bisherigen Erfolg begründen. Denn dieser Erfolg ist ja ebenfalls nur ein vergangener; seine künftige Erwartung setztalso die induktive Methode selbst bereits voraus (vgl. schon S. 63).
Die induktive Methode ist also nicht begründbar: Sie lässt sich nicht aus anderem Wissen ableiten. Wie könnte man zeigen, dass die induktive Methode gleichwohl nicht irrational ist? Man müßte plausibel machen, dass es trotz allem
vernünftig
ist, im realen Leben, wo die induktive Methode offenbar, wie wir sahen, eine unverzichtbare Rolle spielt, an ihr festzuhalten. Nach meiner Auffassung lässt sich dies tatsächlich auf folgende Weise plausibel machen.
Jede Begründung, die man für irgendetwas gibt, muss ein Ende haben. Das gilt für Begründungen theoretischer Erkenntnis
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