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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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im feinmaschigen Netz des Dorflebens, weil ich Flo kenne, weil ich Judith kenne, weil ich die Arends kenne und Marek, mit dem ich gerade bei derselben Frau war und der auf der Hinfahrt sein halbes Leben vor mir ausgebreitet hat?
    Wurzeln, blutige Wurzeln. Sie graben sich schneller fest, als man sie abschlagen kann.
    Â»Bier?«, sagt Marek und hält mir die leere Hand hin.
    Ich wühle hinter dem Sitz und ziehe zwei weitere Dosen Lech hervor. Eine fette Motte klatscht gegen den Scheinwerfer. Ich fummle das Zellophan von der Marlboro-Lights-Schachtel und zünde mir eine an.
    Marek rülpst.

12
    Vorsichtig versuche ich, die Butter wenigstens einigermaßen gleichmäßig auf der Scheibe Vollkornbrot zu verteilen, doch entweder ist die Butter zu hart oder das Brot zu dünn, es zerfleddert dabei in mehrere Teile. Vielleicht bin ich auch zu ungeschickt, oder einfach zu verkatert.
    Das ganze Bier, der Wodka, und dann noch die Flasche Riesling, die ich im Hof geklaut und im Bett getrunken habe, nachdem Marek mich vorm Haus abgesetzt hatte. Die hätte ich mir wirklich sparen sollen. Wie heißt das noch: Wein auf Bier, das rat ich dir ? Eine infame Lüge.
    Ich drücke eine Scheibe Käse auf die Brot-und-Butter-Fetzen, falte den ganzen Schlamassel irgendwie zusammen und stopfe ihn mir in den Mund.
    Es ist zehn vor zehn.
    Vor einer Viertelstunde bin ich aufgewacht, um genau 09:36 Uhr. Der Radiowecker lief also schon seit sechsunddreißig Minuten, bevor mich ein Pfarrer weckte, der in seinem Wortbeitrag mit sanfter Stimme den Krach und die Hektik des modernen Alltags beklagte.
    Â»Die Sprache des Herzens und die Sprache Gottes gehen unter im immer lauteren Getöse oberflächlicher Kurzzeitbedürfnisse«, behauptete er und berichtete von seinen Erfahrungen einer einsamen Woche im Kloster. »Nach ein paar Tagen des Schweigens bekommt man die Chance, jemanden
wiederzutreffen, den man vermutlich schon länger nicht mehr getroffen hat: sich selbst.«
    Ich drückte den Aus-Knopf und quälte mich aus dem Bett, um nicht schon wieder das Frühstück zu verpassen. Als ich die Haustür öffnete, traf mich das grelle Sonnenlicht wie ein Schlag. Mein Kopf schien über Nacht auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein. Benommen taumelte ich über den Hof zum Frühstücksraum, wo dieser Platz schon für mich gedeckt war. »Gudde Morge«, sagte die Frau am Nebentisch, und ihr Mann nickte mir zu.
    Mittlerweile haben sie ihr Frühstück beendet, sitzen aber noch da und unterhalten sich leise. Müssen die Fahrradfahrer aus Karlsruhe sein, von denen Flo erzählt hat. Der Mann hat eine Pigmentstörung und dünnes krauses Schamhaar auf dem Kopf, er sieht aus wie eine Art gefleckter T. C. Boyle. Die Frau trägt eine gebatikte Dreiviertelhose und die Haare bis zum Arsch, dazu bunte Ledersandalen und jede Menge rasselnde Perlenketten um den Hals. Ein farbenfrohes Fossil aus einer vergangenen Epoche. In Karlsruhe fährt man wohl nicht nur gerne Fahrrad, sondern auch Zeitmaschine.
    Sie reden im Flüsterton miteinander, als wären sie im Wartezimmer beim Arzt. Wahrscheinlich fühlen sie sich von mir belauscht. Zu Recht. Allerdings verstehe ich kaum ein Wort. Schwäbisch ist ja so ein bescheuerter Dialekt, ein Sprache gewordener Schluck Wasser in der Kurve, ein kaum verständliches Genöle.
    Ich kann dem knödeligem Kauderwelsch nur entnehmen, dass es um biodynamischen Weinbau geht. Die Frau erzählt etwas von Kräutern, die bei Vollmond vergraben werden, um daraus ein Düngemittel herzustellen, das nur rechtsherum gerührt werden darf, oder so ähnlich. Hat
etwas mit dem »großen Organismus« und einem »ganzheitlichen Ansatz« zu tun. Ihre Stimme hat dabei die Intensität eines Schlaflieds für Säuglinge. T. C. Boyles Beitrag zur Konversation beschränkt sich auf gelegentliche Mhm-Laute. Die beiden scheinen zum Frühstück hauptsächlich Valium zu sich genommen zu haben. Schließlich stehen sie geräuschlos auf und verlassen schleichend den Raum. Der Mann beginnt, leise zu flöten. Das Lied kenne ich. »Kein schöner Land in dieser Zeit«.
    Â 
    Es gibt in diesem Raum weder etwas zu lesen noch ein Radio, es herrscht nun absolute Stille. Mal abgesehen von der Melodie, die durch die weiten Hallen meines Betonschädels geistert. Da-Da-Da-Daaaa-Da-Dada-Daaaa … - vielen Dank für den Ohrwurm, T.

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