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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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Führerschein ist noch ein altes Bild mit meiner echten Haarfarbe. Willst du sehen?«
    Â»Gerne.«
    Sie kramt in ihrer Tasche herum. Dabei fällt ihr eine Strähne ins Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hat. Sie baumelt ein bisschen herum, bevor sie mit einer raschen Handbewegung wieder hinters Ohr geklemmt wird. Sie reicht mir ihren Führerschein rüber. Ich sehe mir das Foto an, dann Judith, dann wieder das Foto.
    Â»Wow!«
    Sie ist ungefähr siebzehn oder achtzehn auf dem Bild und sieht umwerfend aus. Sie trägt keine Brille, was ihren leichten Silberblick betont. Und nicht nur den, auch die langen Wimpern, die schmalen Augenbrauen, die kleinen Sommersprossen auf der Nase. Das hübsche Gesicht ist von einem Bett aus dunkelroten Haaren eingerahmt, die sich auf Kinnhöhe zu wellen beginnen und ihr locker auf die Schultern fallen.

    Mir fällt ein Spruch von Olli ein: »Rostiges Dach, feuchter Keller.« Ich komme mir ziemlich schäbig vor, aber ich kann nichts dafür, er poppt einfach in meinem Kopf auf wie eine Warnmeldung auf dem Computerbildschirm. Ist ja auch irgendwie kein Wunder, bei all den Redewendungen und Sprüchen und Witzchen, denen ich seit Tagen ausgesetzt bin, da stumpft man ja selbst total ab. Ich sage ihr, dass sie die Haare wieder so tragen sollte wie auf dem Foto.
    Â»Findest du?«
    Â»Auf jeden Fall. Sieht super aus. Außerdem sterben die Rothaarigen aus.«
    Â»Wie die Blonden?«
    Â»Schlimmer! Nur eins Komma irgendwas Prozent der Weltbevölkerung sind rothaarig, und es werden immer weniger. In Holland gibt es seit ein paar Jahren sogar ein jährliches Rothaarigentreffen.«
    Â»Aha. Woher weißt du denn so was?«
    Â»Ich kenn mich aus.«
    Â»Soso, der Herr Meise kennt sich also aus mit Rothaarigen.«
    Â»Genau.«
    Sie lacht. Ich lache auch.
    Â»Flo sagt, er mag die schwarzen Haare lieber«, sagt Judith.
    Â»Dann hat Flo keine Ahnung«, sage ich.
    Darauf reagiert sie nur mit einem Schulterzucken und verstaut ihren Führerschein wieder in der Tasche, während ich mir verkneife hinzuzufügen, dass man sich ihren Freund nur angucken muss, um zu sehen, dass er keine Ahnung hat, dass man Leuten mit geweiteten Ohrläppchen in stilistischen Fragen lieber grundsätzlich nicht trauen sollte und dass es wirklich schade ist, wie sie ihr gutes Aussehen
versteckt, die schönen roten Haare mit langweiliger Haarfarbe, ihre Figur unter sackartigen Kapuzenpullis, ihren süßen Silberblick hinter einer viereckigen Brille.
    Das Sinnloseste auf der Welt ist gutes Aussehen, das versteckt wird, da kann man sich ja gleich unter einer Burka verkriechen!
    Â 
    Die Glut ist fast am Filter angekommen, ich rauche schon die Schrift. Ich habe keinen Aschenbecher hier, will sie aber auch nicht über den Balkon schnippen, solange Judith hier sitzt, also drücke ich sie auf dem Geländer aus und lege die Kippe auf den Tisch.
    Dann brauche ich dringend eine neue Beschäftigung für meine Hände. Ich nehme die Flasche Wein und gieße uns beiden die Gläser voll. Wir stoßen an und trinken.
    Irgendwo in der Ferne ertönt ein Geräusch, das sich anhört, als würde ein Mann einen bellenden Hund imitieren.
    Es ist Freitagabend. Das Radetzky füllt sich jetzt langsam.
    Â 
    Â»Wie alt bist du nochmal?«
    Â»Sechsundzwanzig.«
    Â»Echt krass.«
    Â»Was ist echt krass ?«
    Â»Dass du sechsundzwanzig und seit fast zehn Jahren mit Flo zusammen bist. Ganz schön lange für das Alter.«
    Â»Ich weiß. Er ist erst mein zweiter Freund, und er ist derjenige, den ich heiraten werde.«
    Â»Heißt das, er ist …«
    Â»Was?«
    Â»Ach, nichts.«
    Â»â€¦ einer von zwei Männern, mit denen ich geschlafen habe?«

    Ich sehe sie an, ohne etwas zu sagen.
    Â»Ja«, sagt sie.
    Â 
    Die Turmfalken sind verstummt. Ich springe auf und stelle das Radio an. Dort läuft gerade eine Deutschrockballade. Eine flehende Frauenstimme verlangt ein kleines bisschen Sicherheit, weil in dieser Welt nichts mehr sicher zu sein scheint. Ich stelle das Radio sofort wieder aus. Setze mich zurück auf meinen Platz, murmle etwas von wegen »Ach nee, ohne Musik ist doch besser« und gieße den Rest der Flasche in unsere Gläser.
    Â»Das war der letzte Wein«, sage ich.
    Â»Tja, und nun?«, fragt sie und blinzelt.
    Â»Weiß nicht. Ich bin noch nicht müde, und du?«
    Â»Ich auch

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