Was Liebe ist
kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden.« Dann wurde der Begriff erbkrank präzisiert. »Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manischdepressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntington’sche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung.«
Er fand sich also in der Mitte dieser Liste wieder, zwischen manischer Depression und Chorea-Huntington unter Punkt vier, erblicher Fallsucht. So bezeichnet man seit demMittelalter epileptische Erkrankungen in der deutschen Sprache. Im Mittelalter hat man sogar geglaubt, Epilepsie lasse sich durch Kastration (bei Männern) heilen. Das hat ihn zunächst empört. Später hat er erfahren, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Aktivität und der Häufigkeit von epileptischen Anfällen gibt – bei Hunden gibt es ihn. Es ist bis heute tierärztliche Standardpraxis, epilepsiekranke Hunde zu kastrieren.
Das Taxi, das ihn zum Hotel bringt, ist ein leise dahinrollender Mercedes. Daimler-Benz war einer der ersten deutschen Konzerne, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben, aber auch einer der ersten, die eine Entschädigung auf freiwilliger Basis gezahlt haben. Macht es das besser? Oder fährt er in einem Produkt von Kriegsverbrechern?
Das Hotel liegt im Westteil Berlins. Die Route vom Staatsratsgebäude der DDR dorthin führt über die ehemalige innerstädtische Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Hoch aufragende Kräne, im Nichts endende Betonstelen, wassergefüllte Gruben und aufeinandergestapelte Wohncontainer bilden dort eine immense Baulandschaft, die sich nahtlos vom Potsdamer Platz mit halbfertigen, schon weit in den Himmel ragenden Hochhäusern bis zum Neubau des Kanzleramts erstreckt.
Beim Anblick der Baustelle fragt er sich, wer hier arbeitet. Türken und Polen sicher, Portugiesen, hat er gehört. Sie alle tun es freiwillig und werden dafür bezahlt – ob anständig, weiß er nicht. Sein Gefühle sind gemischt, als er auf den Reichstag mit der gläsernen Kuppel auf dem Dach und der hoch vor dem Eingangsportal wehenden deutschen Fahnezufährt. Irgendwo hier im Herzen Berlins wurde vor sechzig Jahren der Gewinn aus der Verwertung eines Arbeitssklaven berechnet: 1631 Reichsmark.
Eizenstat hat recht. Die in den USA klagenden Zwangsarbeiter können das an ihnen begangene Unrecht durch alle Instanzen bringen und werden am Ende doch keine Gerechtigkeit bekommen. Das, was ihnen genommen worden ist – ihre Jahre, ihre Gesundheit, ihr Recht –, werden sie nicht zurückbekommen. Juristisch ist das Problem nicht zu lösen. Alles, was man tun kann, ist, zu bezahlen und eine einfache Tatsache anzuerkennen: Die letzte Instanz ist Geld.
Die Dämmerung über der Stadt ist schon weit fortgeschritten, als er Zoe anruft. Er hat den Anruf hinausgezögert, weil er sich nicht sicher ist, wohin er führen wird. Er lebt in Frankfurt, Zoe in Berlin. Und außerdem hat sie einen Lebensgefährten – vielleicht ist sie sogar verheiratet. Das ist durchaus möglich.
Trotzdem kann er nicht aufhören, an sie zu denken. Raindrops on roses, whiskers on kittens … Wer die erste Zeile von My Favorite Things so singen kann wie sie, muss viel von Musik verstehen, jedenfalls von Jazz-Standards. Besonders gefallen hat ihm das dunkle Timbre ihrer Stimme mit dem hauchigen, manchmal etwas kratzenden tonlosen Ansatz. Als er sie anruft, glaubt er ihre Stimme schon am Einatmen vor der ersten Silbe zu erkennen.
»Hallo«, sagt sie, ohne ihren Namen hinzuzufügen.
»Ich bin der, der Sie heute beim Frühstück gestört hat …«
Sie lacht: »Ist Ihre Konferenz zu Ende?«
»Ja.«
»Haben Sie sich erholt?«, fragt sie.
»Kein Problem. Mir geht es wieder gut.«
»Sind Sie noch länger in Berlin?«
»Heute und morgen noch«, sagt er und fügt hinzu: »Vielleicht können wir uns sehen.«
»Ja …«, sagt sie etwas zögerlich und lässt eine kurze Gesprächspause entstehen. Dass sie überlegen muss, enttäuscht ihn ein wenig. Aber wie sollte es auch anders sein? Es ist Freitagabend – der Beginn des Wochenendes. Sie wird längst etwas vorhaben, alles andere wäre ungewöhnlich.
»Ich will es nicht zu kompliziert machen«, sagt er.
»Nein, nein …«, sagt sie. »Ich möchte Sie gerne wiedersehen … Hm … Ich stehe hier an der
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