Was Liebe ist
bereit, Piet wegzustoßen oder zu umarmen.
Erst nach mehreren Sekunden gibt er Zoes Lippen frei. Sie muss erst einmal Luft holen. Während ihre Arme zurücksinken und unklar ist, wie sie auf den Kuss reagiert, sagt Piet etwas zu ihr – das Falsche offenbar: Sie schießt aus ihren Augen tödliche Blitze auf ihn ab, öffnet ihre Army-Tasche und fängt an, wütend darin herumzuwühlen. Doch zu erregt, um zu finden, wonach sie sucht, reißt sie sich die Tasche schließlich von der Schulter und wirft sie – nicht mit einer ausholenden theatralischen Gebärde, sondern in einem nervösen zornigen Impuls – Piet vor die Füße. Dann dreht sie sich um und geht.
Die anderen Theatergäste sind auf die Szene aufmerksam geworden und beobachten sie verstohlen. Manchen ist es peinlich. Sie tun so, als würden sie nicht bemerken, was dort geschieht. Es gibt nichts, was sie tun könnten. Es gibt keine Konvention, auf das Private in der Öffentlichkeit zu reagieren, solange das, was geschieht, keine Rechte verletzt.
Zoe durchquert, ohne sich noch einmal umzusehen, das Foyer der Schaubühne, stößt die Glastür auf und tritt heraus.Er steht ein paar Meter von ihr entfernt auf dem Platz vor dem Eingang. Zoe erkennt ihn zuerst nicht, als sie an ihm vorbeigeht, doch dann bleibt sie irritiert stehen und dreht sich um. Ihre Erregung schlägt in Verwirrung um.
»Oh … Sie … ach ja … Ihre Karte … Entschuldigung … ich komme nicht mit, aber Ihre Karte liegt an der Kasse.«
Unversehens wird er selbst zu einem Akteur in diesem kleinen Drama – er lügt: »Ist etwas geschehen? Doch hoffentlich nichts …«
»Nein, nein … es ist nichts …«
Nach der Lüge gibt er nun der Wahrheit die Ehre: »Ehrlich gesagt, bin ich nicht wegen Hamlet hier, sondern wegen Ihnen.«
Sie sieht ihn an. »Ach ja?«
»Hamlet kenne ich schon.«
Sie hebt die Augenbrauen. »Sind Sie sicher, dass Sie mich kennenlernen wollen?«
»Unbedingt.«
»Dann kommen Sie.«
Sie wendet sich zur Straße, und er folgt ihr über den Kurfürstendamm. Auf der anderen Seite werden ihre Schritte allmählich etwas langsamer, und ihr Atem beruhigt sich. Er denkt: Sie hat sich gefangen. Und dann denkt er: Was für eine eigenartige Formulierung: gefangen. Als wären wir nur im Augenblick der Katastrophe frei.
Sie sagt: »Vielleicht verpassen Sie ja etwas. Hamlet wird von einer Frau gespielt. Das kommt nicht so häufig vor.«
»Ach ja? Und was ist mit Ophelia? Ist sie ein Jüngling? Oder lesbisch?«
»Ich weiß nicht. Ich hab’s ja nicht gesehen.« Und nach einer Weile fügt sie hinzu: »Finden Sie nicht, dass wir Frauen einen Hamlet verdient haben? Oder ist der Wahnsinn nur Männersache?«
Er lässt die Frage offen. Aber er hält nicht viel von Experimenten mit Geschlechterrollen. Was er empfindet, ist im Prinzip nicht kompliziert. Er ist neugierig auf Zoe und fühlt sich zu ihr hingezogen, weil sie eine schöne Frau ist.
Zwischen den Häusern und unter den halb entlaubten Bäumen auf dem Kurfürstendamm kommt ihm die Luft besonders warm vor. Auf dem Gehweg hat sich eine Menschentraube um einen Hütchenspieler gebildet. Locker gekleidet mit weinrotem Sweatshirt und in den Nacken gedrehter Baseballkappe hockt er vor einer blauen abgewetzten Matte auf dem Boden und schiebt drei Streichholzschachteln hin und her.
Sie kommen dazu, als er sich aufrichtet und seine Aufmerksamkeit einer jungen Frau zuwendet. Sie hält einen Hundertmarkschein in der Hand, zögert aber noch. Dann, in einem einzigen Bewegungsfluss, gibt sie dem Hütchenspieler das Geld, beugt sich vor, streckt den Arm aus und hebt eins der Schächtelchen hoch. Ungläubig, nicht einmal sogleich schockiert, starrt sie auf die Matte: Die erbsenkleine Kugel, die sie offenbar unter dem Schächtelchen erwartet hat, liegt dort nicht.
Sie ist jung und mädchenhaft, ein wenig unscheinbar, aber doch hübsch, mit einem weichen, faltenlosen Gesicht und blonden, mit einem rosa Stoffband hochgeknoteten Haaren. Der Hütchenspieler spricht das übliche vereinfachte Deutscheines Ausländers, der nicht vorhat, die Sprache gründlich zu lernen. Er ist warmherzig, geradezu kameradschaftlich.
Er sagt: »Beim nächsten Mal machst du besser, musst du genau hinsehen, ist nicht schwer, kannst du nochmal setzen, kannst du zweihundert setzen, wenn du gewinnst, hast du hundert und noch hundert dazu, pass auf, ich zeige dir, ganz langsam …«
Zoe greift in die Kängurutasche ihres Hoodies und holt eine Schachtel
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