Was Liebe ist
Theaterkasse der Schaubühne. Wir gehen in Hamlet , es gibt noch Karten, vielleicht haben Sie ja Interesse …«
Das Wir, so nimmt er an, bezieht sich auf sie und Piet. Er ist sich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, in dieser Konstellation ins Theater zu gehen.
»Ja, Hamlet, das klingt spannend. Aber ich möchte Ihre Pläne wirklich nicht durcheinanderbringen.«
»Wissen Sie, wo die Schaubühne ist?«
»Ich kenne mich in Berlin nicht besonders gut aus.«
»Am Kurfürstendamm«, erklärt sie. »Ich hinterlege Ihre Karte an der Kasse. Am besten setzen Sie sich in ein Taxi. Die Vorstellung beginnt um halb acht. Schaffen Sie das? Wo ist Ihr Hotel? Im Westen oder im Osten?«
»Im Westen. Beim Zoologischen Garten.«
»Dann ist es kein Problem.«
Kurz darauf steht er auf der Straße. Die spätherbstliche Wärme hält sich auch jetzt, am Abend, über dem Asphalt. Obwohl es schwül ist und nach wie vor ein Gewitter in der Luft liegt, locken die lauen Temperaturen und der Beginn des Wochenendes die Menschen zu den Schaufenstern und in die Restaurants. Zwischen ihren Gestalten blitzen die Frontscheinwerfer der Autos durch, so dass er sein Gesicht instinktiv der anderen Seite des Gehwegs zuwendet.
Der Reflex, flackernde Lichteindrücke zu meiden, ist tief in ihm verankert. Viele seiner generalisierten Anfälle waren lichtinduziert: fotogene Reflexanfälle. Zwar hat er Zoe gegenüber behauptet, alles sei wieder in Ordnung, aber eigentlich weiß er immer noch nicht so genau, was mit ihm los ist.
Sollte sich wirklich ein Anfall ankündigen, würde man seinen Zustand medizinisch jetzt nicht mehr als Aura bezeichnen. Auren sind kurzzeitige Ereignisse. Eine längere Phase der Unruhe hingegen, verbunden mit wiederkehrender Übelkeit und Kopfschmerzen, manchmal auch Depressivität und Schlafstörungen wird medizinisch als Prodrom bezeichnet. Epileptische Prodrome können Stunden, manchmal Tage dauern.
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Es könnte sein, dass er Zoe heute Morgen unbewusst wahrgenommen hat, als er vor dem Café aus dem Taxi gestiegen ist. Und diese Wahrnehmung unterhalb der Schwelle seines bewussten Sehens könnte der Auslöser dessen gewesen sein, was er schließlich für eine Aura gehalten hat: Er hat Zoe im Café gesehen oder erahnt, und etwas in ihm wollte mit ihr in Verbindung treten. Angeblich entsteht das sexuelle Begehren in Bruchteilen vonSekunden. Und das einzige Mittel seines Unterbewusstseins, ihn in das Café zu steuern, war die Illusion einer Aura.
Wie Zoe gesagt hat, ist es nicht weit vom Hotel zur Schaubühne. Bereits nach wenigen Minuten hält das Taxi am Straßenrand. Er zahlt und steigt aus. Dabei sieht er Piet, Zoes Lebensgefährten, auf den Eingang des Theaterfoyers zueilen. Im Gegensatz zu ihm wird Piet dabei bereits vom Lichtschein des vollständig verglasten Kassenraums erfasst. Dort steht auch Zoe ein paar Meter neben dem Kassenschalter und wartet.
Er bleibt unschlüssig vor dem Theater stehen, zögert, hineinzugehen. Zoes und Piets Begrüßung kommt ihm ein wenig kühl vor. Zoe hält Piet ohne große Begeisterung die Wange hin, Piet küsst sie kurz. Er trägt ein gewinnendes Lächeln zur Schau. Sein dunkelgraues Jackett ist aus einem sehr weichen Material gefertigt, Gleiches gilt für die Hose, die etwas heller ist. Seine gelbe Krawatte ist mit einem dünnen Knoten gebunden. Piet kann sich diesen lockeren, etwas zerknautschten Stil leisten.
Zoe hat ihr FIGHT-und-LOVE-T-Shirt gegen ein schwarzes Kapuzen-Hoodie mit dem betend vorgeneigten Profil des Papstes ausgetauscht. Dazu trägt sie eine mit vielen willkürlichen Reißverschlüssen und Schnallen versehene Militärhose, die unten in dunklen Schnürboots steckt.
Sie nimmt die Eintrittskarten aus ihrer Army-Umhängetasche, trennt sie und reicht Piet eine davon. Das wäre eigentlich nicht nötig, da sie gemeinsam durch die Einlasskontrolle gehen. Das verglaste Foyer der Schaubühne ist selbst eine Bühne. Piet und Zoe stehen nebeneinander undtauschen kurze nüchterne Bemerkungen aus. Zoe sagt etwas, dann sagt Piet etwas, danach Zoe wieder – und dann, vollkommen überraschend, wendet Piet sich Zoe zu und küsst sie.
Zoe ist davon so überrumpelt, dass sie sich ohne Widerstand küssen lässt. Piet küsst sie besitzergreifend und männlich. Er umfasst mit der rechten Hand ihr Kinn – eine Geste, mit der er zusätzlich zum Ausdruck bringt, dass es ihm zusteht, sie jederzeit zu küssen. Ihre Arme schweben auf halber Höhe,
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