Was Liebe ist
Gestalt vor den Lichtern der vorüberfahrenden Wagen. Der Regen wird stärker. Die Tropfen glitzern, explodieren wie winzige Feuerwerkskörper. Wenn Zoe noch lange warten muss, wird sich ihr Hoodie mit dem Regen vollsaugen. Aber natürlich wird er sein Jackett ausziehen und über ihr ausbreiten. Ist das auch cool oder eher altmodisch?
Ein Taxi hält. Sie rutschen auf die Rückbank, noch halbwegs trocken. Er sieht nicht zu Boden, sondern lässt die Lichterder Stadt bei der Fahrt auf seiner Netzhaut tanzen. Er lässt Berlin herein, er möchte alles erfassen. Die berühmte Hamlet-Zeile: Sein oder nicht sein, geht ihm durch den Kopf. Und er denkt: Nein, er ist kein Hamlet, kein dem Wahnsinn naher Zweifler und Zögerer. Er möchte sein. Und heute Abend möchte er es erst recht.
An der Hotelbar sagt er: »Seit wann lebst du in Berlin? Bist du hier aufgewachsen?«
»Ich würde gern eine rauchen, wenn es für dich okay ist.«
»Kein Problem«, sagt er. »Ich habe mich noch nicht für deine Hilfe heute Morgen bedankt.«
Sie winkt ab. Jede ihrer Gesten birgt für ihn noch Neues. Beim Abwinken flattern ihre Finger mit den dunkel lackierten Nägeln. Sie lässt sich eine blaue Schachtel Nil bringen.
»Ich bin in den Niederlanden aufgewachsen. Zuerst in Amsterdam, später in Südholland an der Küste.«
Er nimmt das Streichholzbriefchen mit dem Schriftzug des Hotels, das der Barkeeper neben die Zigarettenschachtel gelegt hat, und gibt ihr Feuer.
»Du bist Holländerin? Du hast überhaupt keinen Akzent.«
»Ich bin Deutsche.« Sie benutzt das Ausblasen des Rauchs, um sich kurz zu besinnen. »Meine Mutter ist Anfang der Siebziger nach Holland gegangen und dort geblieben. Inzwischen hat sie eine kleine Galerie in einem Seebad und verkauft Bilder an Touristen. Ihre eigenen, sie malt.«
»Eine Galerie am Meer. Das klingt gut.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin mit siebzehn wieder nach Amsterdam gezogen. Ein Seebad – das war nichts für mich.«
Sie sind die einzigen Gäste an der Hotelbar. Es ist noch zufrüh, um bei einem Longdrink den Abend zur Nacht werden zu lassen. Es ist die Stunde der Konzerte, Filme und Vorstellungen. Ob Piet allein ins Theater gegangen ist?
»Wann bist du nach Berlin gekommen?«
»Dreiundneunzig.«
Immer wenn sie Rauch ausstößt, dreht sie den Kopf von ihm weg, um den Rauch in die andere Richtung zu blasen. Dann kann er sie im Profil sehen. Ihre Nase ist gerade, ihr Kinn prägnant. Weil ihre Haare kurz sind, ist ihr schmaler Hals zu sehen, trotz des Kapuzenhoodies.
»Und was machst du jetzt?«
Nachdenklich dreht sie die Zigarettenspitze im Aschenbecher. Über ihr jetziges Leben zu reden bedeutet, über Piet zu reden. Er hätte nicht danach fragen sollen.
»Ich habe einmal ein Happy Birthday gesungen. Wie Marilyn Monroe für Kennedy, in so einer gehauchten Manier. Es sollte witzig sein, und es fanden auch alle witzig. Aber es war für jemand, der etwas vom Singen versteht.«
»Piet?«
Sie nickt. »Er lehrt Komposition an der Hochschule der Künste hier in Berlin. Er hat mit mir ein paar Songs einstudiert, mit denen ich mich beworben habe. Ich wurde angenommen.«
» Raindrops on roses, whiskers on kittens … «
»Zum Beispiel«, sagt sie.
Er entschuldigt sich und steht auf. In der Toilette nimmt er ein Briefchen Topamax aus der Brusttasche seines Jacketts und drückt eine der Tabletten aus der Kapsel. Die regelmäßige und zeitgenaue Einnahme antiepileptischer Medikamenteist für deren Wirkung eine wichtige Voraussetzung. Es kommt häufig vor, dass Behandlungen daran scheitern, weil viele Epileptiker nicht immer an ihre Krankheit erinnert werden wollen. Er kann das verstehen, aber für ihn ist es kein Problem mehr. Er akzeptiert seit langem, dass er Epileptiker ist.
Zoe raucht. Vor ihr steht ein Glas Rotwein. Er hat sich ein Bier bringen lassen. Alkohol kann die Nebenwirkungen antiepileptischer Medikamente verstärken. Außerdem wirkt die Kombination von Alkohol und Schlafmangel anfallsfördernd. Aber es ist noch nicht spät. Und er sitzt nicht oft mit einer Frau wie Zoe an einer Bar.
Sie drückt die Zigarette aus. »Was ist deine Geschichte? Man setzt sich nicht einfach so an einen Flügel und improvisiert über My Favorite Things .«
Er macht eine abwiegelnde Geste. »Es gibt keine Geschichte. Ich hatte Klavierunterricht, mehr nicht.«
»Na klar. Zwei Wochen oder so …«
»Es stimmt.«
»Wie das mit dem Bundeskanzler.«
»Wie das mit dem Bundeskanzler. Na gut, etwas mehr
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