Was Liebe ist
zum Schlafen bereit gemachte Sofa. Sie steht wieder auf.
»Entschuldige, natürlich lege ich mich aufs Sofa.«
Er verhandelt nicht darüber. »Wir machen es, wie es sich gehört. So wie in jedem anständigen Film. Ich nehme das Sofa.«
Als er aus dem Bad kommt – nicht im Schlafanzug, sondern in T-Shirt und Shorts –, liegt Zoe unter der Bettdecke auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und stiert nachdenklich ins Leere. Sie hat das Licht am Bettausgemacht. Er würde viel dafür geben zu wissen, was sie denkt. Heute Morgen kannten sie sich noch nicht, und jetzt übernachten sie zusammen in einem Hotelzimmer. Wartet sie auf ihn?
Er geht zum Sofa und legt sich hin. Das Sofa ist nicht besonders bequem. Die Sitzfläche ist gewölbt. Im Liegen stellt sich heraus, dass es doch zu kurz ist. Er krümmt sich hinein, wie in eine Muschel. Aber es ist nun einmal so, wie er gesagt hat: Auf dem Sofa zu übernachten ist Männersache.
Ein Abend an einer Bar: Wie schnell es geht, dass man zu viel voneinander weiß, um sich gegenseitig der Illusion der vollkommenen Freiheit und Unabhängigkeit hinzugeben. Kaum hat man drei Worte miteinander gewechselt, ist es schon nicht mehr nur Sex, sondern der Anfang einer Beziehung.
Er macht das Licht aus.
In einem Traum, den er über lange Zeit immer wieder geträumt hat, glaubte er am Ende, ersticken zu müssen. Sein Hals schnürte sich zusammen, und er bekam keine Luft mehr. Zugleich war eine Frau in der Nähe, über die er aber nichts wusste. Sie war einfach nur da. Schon als Kind wachte er nachts davon auf.
Er weiß nicht mehr, ab wann sein Traum sexuell wurde, aber irgendwann kamen auch sexuelle Aspekte zwischen ihm und dieser unbekannten Frau hinzu – oder eher bestimmte erotische Mutmaßungen seines Unterbewusstseins, solange er noch nicht mit einer Frau geschlafen hatte. Und es kam auch nie zur Erfüllung, denn am Ende verkehrte sich stetsalles ins Gegenteil. Die Luft schien zäher und schwerer zu werden, und umso mehr er sich anstrengte zu atmen, desto unüberwindbarer wurde das Gefühl der Beklemmung. Er schlug um sich und nässte ein und erwachte mit rasendem Herzen, ohne einen Laut hervorbringen zu können.
Warum hat er diesen Traum immer wieder geträumt? Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass seine Mutter ihn verlassen hat, als er sechs Jahre alt war. Nach acht Ehejahren hat sie sich von seinem Vater getrennt. Aber im Gegensatz zu seinem Vater, der damit zurechtgekommen ist, hat der Verlust ihn, den Sechsjährigen, überfordert. Plötzlich war seine Mutter fort, ihre Wärme, ihre Lieder, ihre Küsse.
Aber es war doch anders. Mit fünfzehn – nach seinem ersten Grand-mal-Anfall und nach vielen Untersuchungen – bekam er die Diagnose, Epileptiker zu sein. Den Ärzten, die ihn nach solchen Dingen fragten, hat er von seinen Träumen erzählt. Für sie waren diese nächtlichen Angstkrisen – paroxysmale REM-Schlaf-Ereignisse – nicht ungewöhnlich. Seine Alpträume waren keine Hilferufe seiner Seele, sondern Anfälle.
Nachdem er jahrelang nicht mehr daran gedacht hat, träumt er in dieser Nacht diesen Traum wieder. Er ringt nach Luft, ein Druck lastet auf seinem Hals, und seine Luftröhre wird immer enger. Er wirft sich hin und her, doch dadurch macht er alles noch schlimmer, und am Ende wird die Anstrengung zu atmen unüberwindbar.
In dem Moment schreckt er hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er in die Dunkelheit, die nicht mehr so undurchdringlich ist wie beim Einschlafen. Jemand hat den Vorhanggeöffnet. Er hat das Gefühl, höchstens eine halbe Stunde geschlafen zu haben, aber die Digitaluhr zeigt, dass es halb drei ist.
Das Bett, in dem Zoe gelegen hat, ist leer, die Decke zur Seite geschoben, aufgeworfen zu einem Höhenzug aus Licht und Schatten. Nach dem Alptraum braucht er einige Sekunden, um den Anschluss an die Realität des gestrigen Abends herzustellen. Es gelingt ihm, während er sich im Zimmer umsieht. Da auch im Bad kein Licht brennt, ist Zoe offenbar nicht mehr da.
Langsam, noch benommen von dem Gefühl, ersticken zu müssen, setzt er sich auf. Seine Wahrnehmungen ordnen sich. Vom Fenster her hört er, dass es draußen nach wie vor regnet. Das Geräusch hat eine beruhigende Wirkung. Es gelingt ihm, einen ersten klaren Gedanken zu fassen. Dieser Gedanke gilt Zoe: Wo ist sie?
Das ferne Rollen eines Donners verebbt im Prasseln des Regens. Er geht zum Bett mit der aufgeworfenen Decke und der leeren Matratze. Warum
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