Was Liebe ist
ist Zoe mitgekommen, warum ist sie gegangen? Beides erscheint ihm gleich rätselhaft.
Hätte er doch versuchen sollen, mit ihr zu schlafen? Hätte er ihr zumindest die Möglichkeit geben sollen, ja oder nein zu sagen? Er hat die Entscheidung selbst getroffen, anstatt sie ihr zu überlassen. Er hätte ihr einen Augenblick der Freiheit bieten können: der Freiheit, sich für oder gegen Sex zu entscheiden. Eine Freiheit, wie ihm auf einmal klar wird, die es in der Liebe nicht gibt. Wer liebt, gibt sich hin.
Die Tropfen schimmern bläulich auf der Fensterscheibe, glitzern dann auf im Leuchten eines Blitzes. Er steht intuitivauf, um den Vorhang zu schließen. Vielleicht war es ein Blitz, der sein Angsttrauma aktiviert hat.
Am Vorhang fällt sein Blick auf die Straße. Zwei Stockwerke tiefer steht vor dem Eingangsportal des Hotels ein Wagen, ein Mercedes mit eingeschalteter Beleuchtung. Der Regen zerstiebt funkelnd auf dem Dach. Die Beifahrertür wird von innen geöffnet. Ein Unterarm stößt die Tür mit einem kurzen Druck auf und verschwindet wieder im Wageninnern.
Vom Hotelportal aus eilt Zoe quer über den Gehweg. Er weiß, dass es Zoe ist, auch wenn ihre Gestalt von oben kaum mehr ist als ein dunkler Schatten im Regen. Sie hat die Kapuze des Hoodies übergezogen, um sich zu schützen. Sie erreicht die geöffnete Wagentür und taucht ins Innere. Das Letzte, was er von ihr sieht, ist ihre Hand, die den Griff der Tür umfasst, um diese zu schließen.
Es gibt die Theorie, dass Epileptiker nach ihren Auren und Anfällen süchtig werden können, denn es kommt vor, dass epileptische Ereignisse das Gehirn in einen Zustand immenser Klarheit und übersteigerter Brillanz versetzen, als sei die Krankheit eine bewusstseinserweiternde Droge. Doch andererseits heißt es, dieses Gefühl besonderer Wachheit und Präsenz sei nur eine Folge des Kontrastes zur vorherigen, manchmal tagelangen Dämpfung, zur Reizbarkeit, Unruhe und Depressivität.
Als er dort am Fenster des Hotelzimmers steht und auf der Straße den Mercedes abfahren sieht, in dem Zoe sitzt, erlebt er einen solchen Moment der Klarheit. Er begreift, dass er Zoe begehrt – aber es ist viel mehr. Er verehrt das Unsichtbare in ihr, das Rätsel, das sie ihm aufgibt. Er willbeides: ihre Schönheit bewundern und herausfinden, wer sie ist. Bisher hat Sex für ihn keine Bedeutung gehabt, die über den Akt selbst, die kurzzeitige Befriedigung hinausgegangen wäre. Doch in diesem Moment ahnt er, dass es vielleicht auch anders sein könnte.
Er schließt den Vorhang, um sich vor den Blitzen zu schützen. Dann geht er zurück zum Sofa. Erst als er wieder versucht, auf der zum Schlafen ungeeigneten Sofapolsterung eine einigermaßen bequeme Lage zu finden, wird ihm klar, dass das Bett ja frei ist. Er steht auf und legt sich hinein. Als er die Decke über seinen Körper zieht, glaubt er noch einen Hauch der Wärme zu spüren, die Zoe hinterlassen hat.
FÜNF
ER ERWACHT FRISCH UND AUSGERUHT. Das Gefühl, dass ein Anfall bevorstehen könnte, ist über Nacht vergangen. Er steht auf und geht zum Fenster. Der breite Bürgersteig vor dem Hotelportal ist feucht vom Regen, aber der Himmel, soweit von hier aus über den Dächern zu sehen, ist wolkenlos. Das Gewitter hat die Luft gereinigt und sehr klar zurückgelassen. Die Straßenbäume vor dem Fenster sind noch nicht ganz entlaubt. Die verbliebenen Blätter bewegen sich in der aufsteigenden Luft. Das Morgenlicht tropft zusammen mit den Resten des Regens aus den Zweigen.
Er denkt darüber nach, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er Zoe wiedersieht. Nicht sehr groß, wenn sie beide es nicht wollen, was wahrscheinlich das Beste ist. Er geht ins Bad. Dort hat sie sich angezogen, während er schlief. Danach ist sie gegangen, mitten in der Nacht, leise und diskret – eigenartigerweise so, als hätten sie miteinander geschlafen.
Er sieht auf die Uhr, es ist halb neun. Wie jeden Morgen um diese Zeit nimmt er die Hälfte seiner Tagesdosis Topamax, 125 Milligramm. Dann duscht er, zieht sich an und verlässt das Zimmer, um zu frühstücken. Er isst ein Croissant und trinkt einen Milchkaffee. Er isst allgemein nicht viel.Appetitverlust – Anorexie – ist eine mögliche Nebenwirkung von Topamax. Manchmal hat er Wortfindungsschwierigkeiten, aber nicht sehr oft. Er will etwas sagen, weiß, dass er das Wort kennt, aber es stellt sich nicht ein. Er hat gelernt, damit umzugehen und solche Momente zu überspielen. Er hat es sich
Weitere Kostenlose Bücher