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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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um.
    »Sage ich ja: War rot.«
    Rolf macht sich Luft. Er tritt gegen einen Reifen des Mercedes und schreit laut auf. Er kann nicht akzeptieren, was geschehen ist. Die Polizeibeamten – eine Viertelstunde später – interessieren sich nur am Rande für den Unfallhergang. Für sie ist die Sache von vornherein klar: Wer auffährt, ist schuld. Eine einfache, klare Regel, an die sie sich halten.
    Die Frau des Türken wird von zwei Sanitätern aus dem Auto gehievt. Das ist nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen. Sie hilft nicht mit, ihre Muskeln sind vollständig erschlafft. Sie ist klein und rundlich unter ihrem langen, dunklen Mantel. Die beiden jungen Männer schaffen es irgendwie, ihr eine stabilisierende Halskrause anzulegen. Ihr lautes Klagen geht in ein gedehntes Stöhnen über, als sie auf die Bahre gelegt und zum Krankenwagen geschoben wird.
    Hat sie sich bei dem Unfall wirklich verletzt? Wenn er ehrlich ist, glaubt er es ebenso wenig wie Rolf. Vielmehr glaubt er, dass sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lässt,auf sich aufmerksam zu machen und beachtet und umsorgt zu werden. Aber warum nimmt er das an? Müsste er als jemand, der weiß, dass Gesundheit nicht selbstverständlich ist, nicht mehr Solidarität mit ihr empfinden?
    Der alte Audi hat keine Kopfstützen, und sie könnte ein Schleudertrauma erlitten haben. Sein Vorurteil, dass Türken oder Orientalen oder Moslems – er weiß selbst nicht, welches Merkmal die diffuse Gruppe, die er meint, eigentlich definiert  – viel hysterischer und lauter mit jeder Art von Unannehmlichkeit umgehen, als es in Mitteleuropa üblich ist, sitzt tief.
    Der Türke steht rauchend, fast ein wenig teilnahmslos daneben, als die Bahre mit seiner Frau im Krankenwagen verschwindet. Im Gegensatz zu Rolf, der mit seinem Schicksal hadert, hat er den Gang der Dinge augenscheinlich vollständig akzeptiert. Er raucht und fügt sich ins Unvermeidliche. Was geschieht, geschieht.
    Er denkt an seine Begegnung mit Zoe. Dass sie in der Straße mit dem ehemaligen Firmensitz der Ziegler-Elektro-AG wohnt, dafür gibt es keinen tieferen Grund. Es ist einfach so. Sie hat dort nicht auf ihn gewartet, ebenso wenig wie er sie gesucht hat. Und dann saß er an ihrem Tisch. Gegen die Macht einer solchen Begegnung erscheinen ihm alle Bemühungen, das Leben zu gestalten, ziemlich vergeblich. Was geschieht, geschieht.

SIEBEN
    MIT MEHR ALS EINER STUNDE VERSPÄTUNG betreten sie den Bülow-Saal im Schlosshotel Groß-Ziethen. Die Tische sind festlich gedeckt: Kristallgläser, Silberbesteck, längliche Blumenbouquets. Durch die Schlossfenster, die bis zum Parkettboden reichen, fällt das Licht hell und ein wenig pudrig in den Raum.
    Der Bülow-Saal ist sehr hoch, aber nicht übermäßig groß, sechs auf acht Meter vielleicht. Sie brauchen nicht viel Platz. Seine Großmutter hat nicht mehr viele Menschen, die ihr nahestehen. Sie wird an diesem Tag fünfundneunzig Jahre alt. Ihre einstigen Wegbegleiter sind alle tot. Klein und eingefallen sitzt sie gegenüber der Eingangstür am Kopfende des mittleren Tischs. Ihre dünnen Haare sind grau und leicht wie Staub. Er hat sie seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Sein Vater bescheinigt ihr »lichte Momente«.
    In einem Sonett von Shakespeare hat er einmal gelesen: Den Lack der Jugend, ihn zerkratzt die Zeit, liniert der Schönheit zarte Stirn . Was seine Großmutter angeht, ist das stark untertrieben. Bei ihrem Anblick muss er an zerknülltes Papier denken. Sein Vater sitzt rechts von ihr, sein Bruder, Onkel Georg, Rolfs Vater, links. Sein Vater kommt zur Tür undraunt ihnen zu: »Wir haben Oma nicht gesagt, was passiert ist. Der Unfall hätte sie zu sehr aufgeregt.«
    Ist das so? Regt sie sich mit ihren fünfundneunzig Jahren noch über Blechschäden auf ? Als er sie umarmt und ihr gratuliert, überrascht ihn ihr Duft, der so frisch ist wie eh und je. Seit er denken kann, benutzt sie denselben Duft. Im Gegensatz zu den verflossenen Jahren kann man diesen Duft immer wieder nachkaufen.
    »Mein kleiner Rolf«, sagt sie und streicht ihm mit ihrer knochigen kühlen Hand über die Wange. Er korrigiert sie nicht. Sie bleibt sitzen, er muss sich weit vorbeugen, um sie zu umarmen. Er legt die Arme fast berührungslos um ihre Schultern, als habe er Angst, dass sie unter dem Druck der Umarmung zerfallen könnte.
    Seinen Platz entdeckt er schnell. Man hat ihn ans Ende des mittleren Tischs neben Anke gesetzt. Nun ja, warum auch nicht? Allerdings wundert es

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