Was Liebe ist
hat.
Die Sonne beziehungsweise die Gürtelschnalle war etwa auf der Höhe seiner Augen, als seine Mutter vor ihm stand und sich zu ihm hinabbeugte. Ihre Wangen waren feucht, sie hatte Tränen in den Augen, vor der Haustür stand ein Koffer. Er wusste nicht, warum sie weinte. Er dachte, er wäre schuld daran, dass sie unglücklich war. Wie jedes Kind bezog er alles, was in der Welt geschah, auf sich – so als gäbe es keine von ihm unabhängige Realität, in der Gesetze herrschten, die er nicht verstehen konnte.
Seine Mutter beugte sich zu ihm hinab und strich mit beiden Händen über seine Wangen. Dann kniete sie sich hin, umarmte ihn und drückte ihn so fest an sich, als müsse sie sich an ihm, dem Kind, festhalten. Sie sagte nichts, und zuerst sagte er auch nichts.
Aber dann fragte er sie: »Was ist denn, Mama? Willst du verreisen?« Weil sie ja kniete, konnte er über ihre Schulternhinweg den Koffer vor der Haustür stehen sehen. Sie schwieg und drückte ihn immer noch an sich, bis er sagte: »Nimmst du mich mit?«
Da zitterte sie kurz wie von einem heftigen Schmerz. Sie ließ ihn los, stand auf und nahm sein Gesicht in ihre Hände, als wollte sie es vorsichtig irgendwohin tragen. Ihre Gesichter waren in diesem Moment sehr nah beieinander, er spürte zum letzten Mal ihre Wärme. Sie wollte etwas sagen, aber sie wusste wohl nicht, was sie in dieser Situation hätte sagen können. Es gab keinen Trost, den sie ihm spenden, keine Hoffnung, die sie ihm machen konnte. Schließlich sagte sie doch etwas, aber es war nichts, das ihm die Situation erleichtert hätte oder aus dem er hätte schließen können, was in diesem Moment geschah. Sie sagte ganz leise: »Es tut mir leid.«
Und nachdem sie das gesagt hatte, wischte sie sich mit dem Handrücken die Feuchtigkeit unter den Augen und unter der Nase ab und richtete sich auf. Dadurch fiel sein Blick wieder auf die Gürtelschnalle mit dem Sonnensymbol, das, wie er später, mit Anfang zwanzig, in jenem Indienladen erfuhr, den Sonnengott Surya darstellte, was ihn überraschte, weil er angenommen hatte, es müsse sich um ein starkes weibliches Symbol handeln, um ein Zeichen der Selbstbestimmung – einen Ausdruck dafür, dass seine Mutter beschlossen hatte, ihren eigenen unabhängigen Weg zu gehen, als sie ihn verließ.
Der Koffer neben der Haustür war aus rotem Kunstleder mit dicken Messingbeschlägen. Als seine Mutter den Koffer nahm und die Haustür öffnete, sagte er verzweifelt, als könnteer sie noch aufhalten: »Was denn? … Mama … Was tut dir leid …?« Ihr Körper versteifte sich für einen Moment. Ihre Finger verkrampften sich um den Griff des Koffers, und mit einem harten, von ihren Schultern ausgehenden Impuls öffnete sie die Tür.
Sie ging hinaus, als sei sie von einem auf den anderen Moment taub geworden und nicht mehr in der Lage zu hören, dass er hinter ihr jämmerlich zu schluchzen begann. In dieser Sekunde verschwand sie für immer aus seinem Leben, und er blieb zurück, unfähig, sich zu bewegen, gelähmt von der Angst, in diesem Moment für alle seine kleinen kindlichen Sünden bestraft zu werden.
ACHT
NIKO, SEIN NEFFE , steht auf und geht zum Flügel, der an der Stirnseite des Bülow-Saals vor den großen Fenstern steht. Der Junge ist neun, zart und hellblond. Er schlägt ein Notenheft auf, stellt es auf den Ständer und setzt sich schnell hin, alles mit verschämt gesenktem Blick. Will er wirklich vorspielen? Liebt er seine Urgroßmutter so sehr? Oder erfüllt er lediglich eine familiäre Pflicht, gegen die er mit seinen neun Jahren noch nicht aufbegehren kann?
Für einen Moment wird es laut, weil alle im Raum ihre Stühle zurechtrücken, um dem Jungen beim Vorspielen nicht nur zuhören, sondern auch zusehen zu können. Er wirkt vor dem großen Flügel eingeschüchtert und kommt mit dem Fuß kaum ans Pedal. Er legt seine Hände auf die Tasten, hebt den Kopf und richtet den Blick auf die Noten. Nach einem kurzen Moment der Konzentration erklingen die ersten Töne: Von fremden Ländern und Menschen aus Schuhmanns Kinderszenen.
Es ist das erste Mal, dass er seinen Neffen Klavier spielen hört. Er ist überrascht. Eigentlich hat er damit gerechnet, der Junge würde – wie nahezu alle Neunjährigen – herzlos auf die Tasten einhämmern. Aber dem ist nicht so. Die Melodieerklingt zart über der Begleitung aus Triolen, die immerhin von der linken in die rechte Hand überwechseln und ihren jeweils eigenen, sanften Bogen haben. Das ist
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