Was Liebe ist
ihn, dass der Platz neben Anke überhaupt frei ist. Wo ist Paul, ihr Mann?
Anke ist die Tochter der Schwester seiner Ziehmutter. Sie sind miteinander also nicht blutsverwandt, und so recht weiß er bis heute nicht, was Anke genealogisch für ihn eigentlich ist. Eine Art Stiefcousine?
Sie ist zwei Jahre jünger als er, und sie kennen sich, seit er denken kann. Bei allen Familienfesten, an die er sich erinnert, haben sie entweder zusammen gespielt oder – in späteren Jahren – miteinander geredet. Ihr verwandtschaftliche Beziehung hat verschiedene Phasen durchlaufen. Mit achtzehn oder neunzehn waren sie vielleicht sogar eine Zeit lang ineinander verliebt.
Sie sind diesem vagen Gefühl aber nie nachgegangen. Nachdem sie sich in den vergangenen Jahren eher selten gesehen haben, werden sie allmählich so etwas wie alte Freunde füreinander – mit allen Vor- und Nachteilen. Sie gehen sehr offen und vertraut miteinander um, bekommen von ihrem wirklichen Leben aber nur wenig mit.
»Ist das wahr«, sagt Anke leise, »ihr hattet einen Unfall?«
»Ein Blechschaden. Es ist alles in Ordnung.« Er sieht sich um. »Wo ist Paul?«
Sie zögert eine Sekunde. »Du weißt es noch nicht?«
»Was denn?«
»Wir haben uns getrennt.«
Sie sagt es gefasst, nüchtern. So kennt er sie ja: Sie geht pragmatisch an die Dinge heran. Jammern führt zu nichts, das Leben muss weitergehen.
»Das tut mir leid«, sagt er.
»Danke, aber das muss es nicht. Die Geschichte lief seit längerem nicht mehr rund. Emotional bin ich darüber hinweg. Natürlich ist es nicht schön, alles wieder auseinanderzudividieren und von vorne anzufangen. Aber ich bin Mitte dreißig und habe noch keine Kinder – also ich denke, da ist für mich schon noch was drin. Oder meinst du nicht?«
»Was für eine Frage!«, sagt er.
Sie sieht wirklich gut aus, eigentlich sogar besser als vor zehn Jahren, findet er auf einmal, als er sie jetzt ansieht. Sie trägt ihre Haare als rötlich brünetten Bubikopf und hat eine schöne – er denkt beinahe: elegante Bräune. Ihre blassblauen Augen sind mandelförmig und zart grünlich umschminkt,und die winzigen ersten Fältchen in ihren Augenwinkeln rühren ihn, ja, er findet sie sogar – erotisch.
»Wie sieht es bei dir aus?«, sagt sie. »Man hört so wenig über dich, was den Punkt angeht.«
»Du meinst, ich sollte für mehr Familienklatsch sorgen?«
»Warum nicht? Ich habe nichts gegen Familienklatsch.«
Der Punkt. Was gibt es über den Punkt zu sagen? Soll er über Zoe reden? Er hätte sogar Lust dazu, weil er Zoe dadurch in Gedanken heraufbeschwören könnte. Ihren Namen auszusprechen hätte vielleicht die Wirkung eines Zauberworts. Er möchte ein wenig von dem Glücksgefühl verströmen, das ihn erfüllt, möchte sich dem Geheimnis seiner leichten Verliebtheit hingeben. Aber es wäre wohl nicht fair gegenüber Anke, die gerade eine Trennung hinter sich hat, von Zoe anzufangen und davon, dass er nicht aufhören kann, an sie zu denken.
Er sagt: »Alles in allem geht’s mir gut.«
»Wie lange bist du jetzt anfallsfrei?«
»Ungefähr zehn Jahre.«
»Wow!« Sie schüttelt seufzend den Kopf. »Wir sehen uns so verdammt selten. Gratuliere.«
»Ja«, nickt er und trinkt einen Schluck Wasser, »ich habe Glück gehabt. Aber es kommt vor, dass ich dem medikamentösen Frieden der vergangenen Jahre nicht traue. Gestern erst … nicht so wichtig. Es gibt auch ein paar Nebenwirkungen – na ja, nicht so viele. Alles in allem vertrage ich das Zeug ziemlich gut. Aber ich möchte nicht, dass meine Anfälle nochmal zum Problem in einer Beziehung werden. Das kann schon sein.«
»Waren sie das denn?«
Soll er darüber reden? Kann er das? Kann er darüber reden, wie es ist, wenn es jederzeit geschehen kann? Auch im Bett, auch wenn man miteinander schläft. Kann er darüber reden, wie es ist, so gesehen zu werden: nackt und hilflos und starr? In einem Moment gesehen zu werden, in dem Urin und Stuhl abgehen? In dem etwas Erschreckendes und Dämonisches von einem Besitz ergreift und sich der Körper in einer Weise verwandelt, die jeden Gedanken an Nähe und Sex zu einer grotesken, ja abstoßenden Idee werden lässt.
Als er von Phenobarbital auf Topamax umgestellt wurde, häuften sich seine Anfälle. Er war mit Susi zusammen, und Susi war bereit, das mit ihm durchzustehen. Doch anstatt ihr diese Treue zu danken, machte ihn ihr Durchhaltevermögen geradezu wütend. Was ihre Liebe von ihm verlangte – so sah er
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