Was Liebe ist
es –, war eine Kapitulation.
Es gilt allgemein als großherzig und mitfühlend, wenn Gesunde Kranke lieben. Aber es ist viel schwerer, als Kranker einen Gesunden zu lieben. Vielleicht ist es sogar unmöglich. Vielleicht ist es zu viel verlangt, Tag für Tag die eigene Ohnmacht und Unterlegenheit erleben zu müssen und unter dem Zwang zur ständigen Dankbarkeit keine Hassgefühle zu entwickeln. Kann er darüber reden?
Er sagt: »Manchmal war es nicht einfach. Anfälle können traumatische Erlebnisse sein. Was soll’s. Ist lange her. Und in den letzten Jahren habe ich keine Frau kennengelernt, bei der es nachhaltig gefunkt hätte. Man kann das nicht erzwingen.«
Sie führt ihr Glas an die leicht schimmernden Lippen und nippt nachdenklich an ihrem Champagner. »Und wenn du deine Krankheit – entschuldige, es geht mich ja eigentlich nichts an – nur benutzt?«
»Wie meinst du das?«, sagt er.
»Ich meine, vielleicht liegt es gar nicht an deiner Krankheit. Vielleicht schiebst du es dem Dämon der Epilepsie nur in die Schuhe, dass du es nicht zu einer stabilen Beziehung bringst.« Offenbar ist sie trennungsbedingt der Meinung, dass alle unglücklich sind und kein Recht haben, so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Er denkt trotzdem darüber nach und sagt dann: »Nein, glaube ich nicht.«
»Und dann gibt es da noch einen anderen Punkt, der mich beschäftigt«, sagt sie. »Ich meine, deine Mutter hat dich verlassen, als du sechs warst. Du warst vollkommen wehrlos. Könnte es nicht sein, dass das der eigentliche Grund dafür ist, dass du in Beziehungen echte Nähe nicht ertragen kannst. Deine Epilepsie hast du mit etwas Glück und der richtigen Pille in den Griff gekriegt. So einfach ist das mit traumatischen Kindheitserfahrungen aber nicht. Hast du dir jemals Rat geholt? Hast du dich schon mal professionell durchleuchten lassen?«
»Das ist nichts für mich«, sagt er.
»Ich mache damit gerade gute Erfahrungen.«
»Das merke ich«, lächelt er.
»Du solltest das ernst nehmen. Mein Therapeut sagt, wer bis vierzig nicht repariert worden ist, für den ist es zu spät.«
Muss er repariert werden? Neigt er, wie viele chronischKranke, dazu, das Leben und alles, was mit ihm geschieht, im Licht seiner Krankheit zu deuten? Im Rahmen eines erschwerenden Umstands, für den er nichts kann? Und verhindert darüber hinaus die Angst, enttäuscht und verlassen zu werden wie einst von seiner Mutter, dass er sich ohne Vorbehalte auf eine Beziehung einlässt? Muss er tatsächlich lernen, einer Partnerin zu vertrauen? Muss er lernen zu lieben? Kann man das überhaupt lernen?
In Ankes Augenwinkeln sammelt sich Feuchtigkeit. Damit hat er nicht gerechnet. Offenbar hat er das ganze Gespräch zu sehr auf sich bezogen. Aber nicht er, sondern Anke steht vor einem Scherbenhaufen. Sie steht wieder ganz am Anfang, und das macht ihr Angst. Er nimmt ihre Hand, die neben seiner auf dem festlichen Damasttischtuch liegt. Sie trägt keinen Ehering mehr. Die Hand ist warm.
Sein Vater erhebt sich und tickt mit der Messerspitze gegen sein Weinglas. Er zieht ein Blatt Papier aus der Tasche seines Jacketts und faltet es auf. Er war nie ein guter Redner. Stets verirrt er sich in Details, und wenn er emotional wird, erreicht sein Pathos höchstens das Niveau eines Nachrichtensprechers.
So auch heute. Wie ein Abteilungsleiter, der einen altgedienten Mitarbeiter in den Ruhestand entlässt, zählt er die Verdienste seiner Mutter auf. Sie starrt teilnahmslos ins Leere. Es ist nicht zu entscheiden, ob die Rede sie langweilt oder ob sie ihr nicht folgen kann. Warum feiert man solche späten und letzten Geburtstage überhaupt? Um die Altvorderen zu ehren, oder um sich an ihnen zu rächen?
Seine Gedanken schweifen ab. Er denkt an seine Mutter.Sie ist in seinem Gedächtnis eine Leerstelle, ein Zwischenraum ohne Eigenschaften. Nur an den Tag, als sie gegangen ist, erinnert er sich noch sehr genau. Außer ihr und ihm war niemand zu Hause. Sie rief ihn in den Hausflur. Sie trug eine Jeans und ein rosa T-Shirt mit Ärmeln bis zum Ellbogen. Auf ihren Hüften lag, so wie es zu Beginn der siebziger Jahre Mode war, ein breiter schwarzer Gürtel mit einer großen runden Schnalle aus dunkler Bronze. Der Gürtel war neu, jedenfalls hatte er ihn noch nie an ihr gesehen. Die Schnalle stellte eine stilisierte Sonne dar, von der s-förmig züngelnde Strahlen ausgingen – ein Symbol, wie er es später im Schaufenster eines Ladens mit indischer Kleidung wieder gesehen
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