Was Liebe ist
an, Vorgänge zu bewerten oder beeinflussen zu wollen, die für ihn inden Bereich der Politik gehörten. Sein Interesse galt seinem Betrieb, dessen Produktivität er von 1942 bis 1944 um das 2,5fache steigerte, während der Lohnindex kontinuierlich sank. Sein Großvater handelte so, wie Unternehmer bis heute handeln: Er steigerte die Produktivität bei sinkenden Lohnkosten. Hatte er Mitleid, menschliche Regungen? Er weiß es nicht.
Er sitzt auf dem Sofa im Hotelzimmer und blättert in den Kopien der Dokumente aus dem Firmenarchiv. Dann blickt er auf und starrt eine Weile auf das Bett, das gemacht worden ist, als er beim Frühstück saß. Auf dem Kopfkissen liegt eine Praline. Irgendwann klingelt sein Telefon. Er betrachtet die schmale grüne Nummernanzeige. Es ist Rolf, sein Cousin. Mit diesem Anruf hat er gerechnet.
SECHS
ROLF IST EIN ATTRAKTIVER MANN Anfang vierzig: volle Salz-und-Pfeffer-Haare, klare, himmelblaue Augen, gleichmäßig gebräunte Haut. Er ist beinahe smart zu nennen. In seiner Makellosigkeit verschmilzt er optisch ein wenig mit dem nagelneuen Innenraum des Leihwagens, hinter dessen Steuer er sitzt. Es ist ein dunkelblauer A-Klasse-Mercedes. Das Modell ist bei einem Kurventest vor zwei Jahren ausgebrochen und auf die Seite gekippt. Das hat dem internationalen Renommee von Mercedes wahrscheinlich stärker geschadet als die gegenwärtige Zwangsarbeiterdiskussion.
Rolf kommt soeben von Verhandlungen mit France Électric aus Paris. Als Cousins halten sie die gleichen Vermögensanteile – jeweils zehn Prozent – an der Firma ihres Großvaters. Ihre Väter haben die Ziegler-Elektro-AG in den achtziger und neunziger Jahren zur Ziegler Group um- und ausgebaut. Der Wert der Aktien steigt seit fünfzehn Jahren kontinuierlich. Als Vertreter der dritten Generation sitzen Rolf und er seit zwei Jahren im Vorstand.
Er kennt Rolf wie seinen Bruder. Er hat mit ihm etwa zehn Jahre lang unter demselben Dach gelebt – im Haushalt seines Onkels und seiner Tante. Das war, nachdem seine Muttergegangen war, um ihr eigenes Leben zu leben. Danach stand sein Vater von einem auf den anderen Tag allein mit ihm da.
Die frühen siebziger Jahre waren keine Zeit für alleinerziehende Väter. Jedenfalls sah sein Vater damals nicht, wie er es miteinander hätte vereinbaren können, sich sowohl um die Firma als auch um seinen Sohn zu kümmern. Das erschien ihm vollkommen unmöglich – vielleicht war es das sogar.
Aber natürlich erschien es ihm nicht nur unmöglich, weil es keine passenden Betreuungsstrukturen gab, sondern weil es seinem Selbstverständnis als Mann widersprochen hätte, sich um ein Kind zu kümmern. Da lag es nahe, den Jungen seinem Bruder beziehungsweise der Frau seines Bruders anzuvertrauen, die sich ein zweites Kind wünschte, aber keins bekam.
Rolf steuert den Mercedes durch den Lichtregen unter den Baumkronen des Kurfürstendamms. »Wie ist es gestern gelaufen? Die Konferenz ist in den Tageszeitungen nicht erwähnt worden.«
»Schröder will die Sache nicht an die große Glocke hängen, solange es keine Einigung gibt. Er möchte die Entschädigungsfrage bis zum Ende des Jahres ein für alle Mal regeln.«
»Bei wie viel Milliarden sind die Forderungen denn inzwischen angekommen?«
»Gestern ging es um acht, aber ich denke, dass es am Ende zehn werden. Die Hälfte würde der Bund tragen.«
»Wie soll die Industrie fünf Milliarden aufbringen? Das ist vollkommen unrealistisch – jedenfalls auf freiwilliger Basis.«
»Schröder will es versuchen.«
Sie sind in der Firma gleichberechtigt. Manchmal neigt Rolf dazu, den Ton anzugeben wie zu der Zeit, als zwischen vier Jahren Altersunterschied noch Welten lagen: als er noch kurze Hosen trug und Rolf schon Mofa fuhr, als er seine Sexualität gerade erst entdeckte und Rolf schon Pornos gesehen hatte.
»Unser Großvater«, sagt Rolf, »hat seine Gewinne während des Krieges – also auch die Gewinne aus der Tätigkeit der Zwangsarbeiter – nicht in die Schweiz transferiert und hinterher wieder zurückgeholt. Alles in allem war der Krieg für ihn ein Verlustgeschäft. Die Produktionsanlagen waren zerstört, und die Bilanz war negativ. Er hat in Frankfurt von null angefangen – es steckt kein Blut- oder Nazigeld in unserem Unternehmen. Damit ist alles gesagt.«
»Was ist mit der technischen Kontinuität? Die Konstruktionszeichnungen und Blaupausen sind vor der Eroberung Berlins in Sicherheit gebracht worden. In diesen Unterlagen steckte das
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