Was Liebe ist
ich nicht spielen.«
»Doch«, sagt er. »Das kannst du bestimmt. Jeder kann das, und du erst recht.«
»Nein. Wie soll das denn gehen, ohne Noten?«
»Wenn du willst, zeige ich es dir.«
Misstrauisch beäugt der Junge ihn von unten herauf. Er kann nicht einschätzen, was die unerwartete Offerte bedeutet. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass sein Onkel Roland überhaupt Klavier spielen kann.
»Wann denn?«
»Jetzt gleich. Wir gehen zum Flügel, und ich zeige es dir. Das dauert nur fünf Minuten und dann hast du’s drauf.«
»Fünf Minuten?«, sagt der Junge ungläubig. »Und dann kann ich ohne Noten Klavier spielen?«
»Ja. Und zwar solange du willst.«
»Das geht doch nicht.«
»Doch, das geht. Du wirst es sehen. Kommst du?«
Der Junge schaltet, wenn auch etwas unschlüssig, die Spielkonsole aus und klappt sie zu. Er steht auf und folgt ihm in den Saal, in dem gerade Kaffee und Kuchen serviert werden. Die Tischordnung hat sich aufgelöst, niemand achtet auf die beiden, Onkel und Neffe, die zum Flügel gehen.
Er sagt: »Setz dich auf den Hocker. Pass auf, wir fangen mit der linken Hand an. Es ist ganz einfach. Du greifst hier im Bass immer abwechselnd die Intervalle c-g und c-a. Das ist alles. c-g, c-a – immer im Wechsel.«
Der Junge legt seine kleine Hand auf die Tasten und greift das erste Intervall, etwas zaghaft noch, dann das zweite. Das Wechselspiel von Quinte und Sexte lässt den großen Flügel in einem gutmütigen Boogie-Woogie-Sound brummen.
»Gut machst du das!«, lobt er das Kind. »Jetzt kommen wir zur rechten Hand. Für die brauchst du nur drei Noten. Wir fangen mit der wichtigsten an, dem B. Wenn du zur linken Hand rechts b-b-b-b … im doppelten Tempo spielst, klingt das eigentlich schon ganz gut, hörst du?« Er schlägt ein paarmal das B an, während der Junge mit seiner Linken weiter die Intervalle greift. »Jetzt nehmen wir noch das C darüber und das G darunter dazu – und das war’s auch schon. Die Reihenfolge, in der du die Töne anschlägst ist ziemlich egal. Du wirst ein Gefühl dafür bekommen. Das geht sehr schnell.«
Der Junge tut, was er ihm sagt: Er schlägt über der Begleitung in doppeltem Tempo das B an. Es klingt etwas hölzern, weil er, im Gegensatz zu den Schumann’schen Triolen, das Schema nur mechanisch erfüllt. Springt bei ihm ein Blues- oder Boogie-Woogie-Funke über? Der Junge tut sich schwer damit, die drei Töne B-C-G in freier Reihenfolge zu spielen. Das hat er noch nie gemacht. Er hat noch nie improvisiert.
Er will ihm helfen und sagt: »Cool klingt zum Beispiel, B-C-G ein paarmal hintereinander als Triole zu spielen.«
Niko versucht es, aber dabei geraten seine rechte und seine linke Hand aus dem Takt. Er verhaspelt sich bei der B-C-G-Reihenfolge. Mutet er dem Jungen zu viel zu? Es sind nur drei Töne und eine simple Ostinato-Begleitung. Niko hat Schuhmann und Mozart fehlerfrei gespielt, da sollte es mit einem rudimentären Boogie-Woogie doch keine Probleme geben. Aber vielleicht sagt sich das so leicht. Vielleicht ist gerade die geringe Anzahl der Noten das Problem. Vielleicht ist die Freiheit das Problem. Die Freiheit zu entscheiden, wann welche Note gespielt werden soll.
Niko hat den Rhythmus wiedergefunden und spielt parallel zum Wechsel der Bassintervalle jetzt abwechselnd C und G, was statt eines Boogie-Woogie eher klingt wie ein Martinshorn. »In welcher Tonart steht das Stück?«, fragt er verzagt. »Ist das Dur oder Moll?«
»Weder das eine noch das andere«, erklärt er und verwirrt den Jungen damit nur noch mehr.
»Du hast gesagt, ich könnte ganz schnell ein Stück ohne Noten spielen. Aber was für ein Stück denn?«
»Es ist kein Stück. Es ist das, was du fühlst. Man kann das Klavier für aufgeschriebene Stücke benutzen und dafür, darauf herumzuspielen, wie es einem gefällt.«
Der Junge gibt auf.
»So gefällt es mir aber nicht.«
»Du sollst nichts spielen, was dir nicht gefällt.«
»Kann ich wieder gehen?«
»Kannst du … na klar …«
Der Junge springt vom Hocker und läuft aus dem Saal.
Er hat an diesem Wochenende nicht viel Glück damit, Menschen dazu zu bewegen, seinen gutgemeinten Ratschlägen zu folgen, um sich aus ihren Zwängen zu befreien. Woran liegt das? An ihm? An seinem Begriff von Freiheit? Vielleicht ist das, was er unter Freiheit versteht, in Wirklichkeit Arroganz. Die Freiheit eines ungebundenen und vermögenden Sechsunddreißigjährigen, dem es völlig egal sein kann, was andere über
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