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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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nicht selbstverständlich, das ist viel.
    Er lauscht auf die schlichten, aber feingesponnenen Harmonien und ist zunehmend erstaunt. Die ernste Konzentration, mit der der Junge die Noten in Klänge umsetzt, rührt ihn. Er ist musikalisch – sie beide sind es. Irgendein Gen geistert im Erbgut ihrer Familie herum und kommt bei diesem oder jenem zum Tragen. So muss es wohl sein, aber woher stammt dieses Gen?
    Sein Großvater war Ingenieur und seine Großmutter Hausfrau. Sie konnte Klavier spielen, wie er weiß, aber sie hat es nie getan. Jedenfalls hat er sie niemals spielen gehört. Doch was heißt das in ihrer Generation? Was konnten Frauen zu Beginn des Jahrhunderts schon tun, außer Kinder zur Welt zu bringen und sich in ihr Schicksal zu fügen?
    Gene überspringen Generationen, verzweigen sich. Vielleicht hat er mit Niko genetisch eine Art Sohn, von Rolf gezeugt und ausgetragen von Sabine, seiner Schwägerin. Der Gedanke ist beides: erhebend und unbehaglich. Er hätte als Gen nicht nur seine Musikalität, sondern auch seine Krankheit weiterzugeben. Seine Alpträume als Kind.
    Aber so, wie es bei Musikalität keine Garantie auf Vererbung gibt, gibt es sie auch bei Epilepsie nicht. Die Nazis lagen in dieser Hinsicht falsch. Die Erblichkeit von Epilepsie beträgt nur sechs Prozent, beziehungsweise zehn bis zwölf Prozent, wenn beide Elternteile Epileptiker sind.
    Der wehmütig-melancholische Höhepunkt des Schuhmann-Stücksist ein halbverminderter Akkord auf Fis. Niko spielt auch diesen sehr zart und ohne das falsche Ausrufezeichen eines Crescendos. Kann ein Neunjähriger schon wissen, was Wehmut ist? Was Melancholie? Er muss einen guten Lehrer haben. Oder nächtliche Alpträume.
    Seine Großmutter  – Nikos Urgroßmutter  – starrt regungslos auf ihren Urenkel am Flügel. Sie hat keine Tränen in den Augen, ihre Lippen beben nicht. Er weiß nicht, was sie empfindet, aber eigentlich hat er das noch nie gewusst. Fühlt sie etwas bei der Musik? Ruft die Melodie Erinnerungen in ihr wach? Hätte es für sie einen anderen Lebensweg gegeben? War sie ebenso begabt wie der Junge jetzt? Hat er das von ihr?
    Die letzten Töne des Stücks verklingen. Alle applaudieren, während der Junge, beinahe eilig, bereits die nächsten Noten aufblättert. Der Applaus scheint ihm eher unangenehm zu sein, er will die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Das muss er noch lernen: den Lohn, der ihm zusteht, entgegenzunehmen. Und er steht ihm zu.
    Das zweite Stück ist eine Mozart-Sonate. Sie erfordert mehr technisches Geschick und Tempo. Der Junge kommt auch damit klar. Mit erstaunlicher Sicherheit eilt er durch die Läufe und Verzierungen, aber dann gibt es ein Problem beim Umschlagen der Notenseite. Er greift daneben, das Papier rutscht ihm aus den Fingern, und die Seite klappt wieder zurück. Die Musik bricht ab.
    Es wird still im Bülow-Saal. Der Blick des Jungen ist immer noch auf die Noten gerichtet, aber sie sagen ihm nicht mehr, wie es weitergeht. Es ist, als wäre mit der Musik auchder Fluss der Zeit zum Stillstand gekommen. Lediglich die Kerzen auf den Tischen brennen weiter, als wäre nichts geschehen.
    Auf einmal spürt er den Druck der Erwartung, die auf dem Kind lastet. Er spürt ihn so deutlich, als wäre er selbst es, der dort am Flügel sitzt. Hinter dem Missgeschick lauert die Angst, die er so gut kennt, die in nichts wurzelnde Angst. Er möchte dem Kind helfen, aber er kann nichts tun. Aus dieser Angst kann einen niemand befreien. Man muss selbst den Weg nach oben finden.
    Die Sekunde geht vorüber, der Abgrund schließt sich. Der Junge greift noch einmal nach der Seite, schlägt sie um, richtet den Blick auf die Noten und spielt weiter. Die perlenden Läufe Mozarts setzen die Zeit wieder in Gang.
    Als er von der Toilette kommt, sieht er Niko in einem Sessel im Eingangsfoyer des Schlosshotels sitzen, vertieft in das Geschehen auf einer kleinen Spielkonsole. Er geht zu ihm.
    »Das war toll! Du kannst richtig gut Klavier spielen!«
    Der Junge starrt weiter auf das Display. »Gar nicht.«
    »Sei nicht enttäuscht. Das mit dem Umblättern war Pech.«
    »Zu Hause hat’s immer funktioniert.«
    »Bei Konzerten gibt’s dafür eigens einen Umblätterer. Die stehen oder sitzen die ganze Zeit neben dem Pianisten, nur um im richtigen Moment die Noten umzuschlagen.«
    Der Junge sieht auf. »Wirklich?«
    »Ganz sicher.«
    Aber so richtig tröstet ihn das nicht. »Ich kann die Stücke nicht im Kopf behalten. Ohne Noten kann

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