Was Liebe ist
wirr im Kopf. Wenn du jung bist, denkst du, du könntest dich dagegen auflehnen. Du denkst, du bist stärker als die Zeit. Aber irgendwann tun dir die Knochen weh, du siehstnichts mehr und du hörst nichts mehr … du schmeckst nichts mehr … Du lebst nur noch, um nicht zu sterben …«
Er unterbricht sie nicht. Sie hat das Recht, sich zu beschweren. Die Welt dreht sich ungerührt weiter. Wer fragt sie noch nach ihren Ansichten? Wer richtet sich noch nach ihren Regeln? Es gibt keine Themen mehr, bei denen sie mitreden kann – also redet sie über das Altern und die Gebrechlichkeit. Das ist das einzige Thema, bei dem ihr niemand etwas vormachen kann.
Er weiß nur wenig über Lisa, ihre Tochter, seine Tante in Holland. Sie ist Jahrgang 1924. Eine Jugend in Hitlerdeutschland. Bund deutscher Mädel , Kriegshilfsdienst – es sind nur Schlagworte, die ihm dazu einfallen. 1946, ein Jahr nach Kriegsende, ging sie mit zweiundzwanzig in die Niederlande. Er kennt den Grund dafür nicht. Er hat immer angenommen, dass sie nach den nationalsozialistischen Verbrechen mit Deutschland nichts mehr zu tun haben wollte.
Sie hat Medizin studiert und sich in Holland ein Leben als Ärztin aufgebaut. Für ihre Zeit muss sie eine sehr moderne Frau gewesen sein. Sie hat nie geheiratet, sie hat keine Kinder. Sie hat sich dem Weg der bürgerlichen Tochter aus gutem Hause verweigert, und das haben ihr seine Großeltern nicht verziehen. Das ist alles, was er über Tante Lisa weiß.
Über dem Park mit seinem alten Baumbestand – Eichen, Kastanien – liegt eine klare opalblaue Dämmerung. Er steht mit Anke auf der Schlossterrasse. Es ist kühl, aber mit Jackett geht es. Anke trägt einen maßgeschneiderten Hosenanzugaus fliederfarbener Rohseide. Er hat ihr von Niko und Tante Lisa erzählt.
»Meine Versuche, etwas Gutes für die Familie zu tun, sind kläglich gescheitert«, sagt er.
»Gib nicht auf !«, sagt sie.
Sie gehen in den Park. Ein paar der Bäume müssen sehr alt sein, ihre dunklen Stämme sind so mächtig wie Säulen, auf denen das Gewölbe der Dämmerung ruht.
Er sagt: »Wie geht es bei dir weiter?«
Sie denkt darüber nach. »Ich bin wieder frei.«
»Frei wofür?«
»Frei für die Liebe.«
Er nickt. »Das ist gut.«
Dann überrascht sie ihn: »Frei für Sex.«
Über Sex haben sie sich noch nie unterhalten. Aber sie sind jetzt Mitte dreißig – Zeit vielleicht, allmählich damit zu beginnen. Dass sie ineinander verliebt waren, liegt lange genug zurück. Es gibt keinen Grund mehr, in Bezug auf Sex um den heißen Brei herumzureden.
Er sagt: »Oder für beides.«
Sie winkt ab. »Ich glaube, ich trenne das jetzt erstmal.«
»Ach ja?«
»Denkst du, wir Frauen könnten das nicht?«
»Warum sollte ich das denken?«
»Die meisten Männer denken das.«
»Hast du Paul denn betrogen?«
»Das ist ein blödes Wort. Findest du nicht?«
»Ja, vielleicht. Es ist nur eine Formulierung.«
»Sie trifft die Sache aber nicht. Es ist anders.«
»Wie ist es denn?«
Ein Holzbrückchen führt über ein Bächlein, ab und an schält sich neben dem Weg eine Bank aus der Dunkelheit. Zwischen den Bäumen sind die warm erleuchteten Fenster des Schlosses zu sehen. Es ist wie auf einem Gemälde aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Fehlt nur noch der Vollmond. Geht heute der Mond auf ? Er weiß es nicht – woher auch? Er lebt in einer Großstadt. Was ist mit Anke? Ist sie für Romantisches empfänglich, für die Natur, für den Vollmond?
»Ich habe in meinem Leben mit etwas mehr als zehn Männern geschlafen. Ein paar davon habe ich geliebt, aber nicht alle. Auf manche war ich aus anderen Gründen neugierig, ich wollte wissen, wie es mit ihnen ist. Andere haben mich so lange bedrängt, bis ich schließlich nachgegeben habe. Und ein paar Mal hat es sich ergeben, ohne dass ich so recht sagen könnte, warum eigentlich. So ist das.«
Was sie sagt, beeindruckt ihn. Offenbar weiß sie präziser als er, wie die Dinge in ihr zusammenhängen, ihre Emotionen, ihre Triebe, ihre Neugier, ihre Wünsche. Auf der Schlossterrasse bleiben sie voreinander stehen. Anke ist eine große Frau. Da sie zudem Schuhe mit zwar kräftigen – sonst hätte sie den Weg durch den Park gar nicht machen können –, aber recht hohen Absätzen trägt, sind ihre Augen, als sie voreinander stehen, ungefähr auf der Höhe seiner. Unter dem fliederfarbenen Hosenanzug zeichnet sich ihre Figur ab, die im Laufe der Jahre fülliger geworden ist. Sie ist
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