Was Liebe ist
ihn denken. Er kann darauf verzichten, geliebt zu werden. Die Blonde beim Hütchenspiel konnte das nicht. Sie hat sich an die schmeichlerische, aber falsche Zuwendung des Hütchenspielers geklammert. Das könnte ihm nicht passieren.Ist das seine Freiheit? Die Freiheit eines Menschen, der keine Liebe braucht?
Seine Großmutter – mal ehrwürdige Zeugin eines Jahrhunderts, mal Gespenst – sitzt isoliert auf ihrem Ehrenplatz am Kopfende des mittleren Tischs. Im Moment redet niemand mit ihr. Sie hat mit eigenartiger Konzentration ein Stück Geburtstagstorte gegessen, Gabel für Gabel, und starrt jetzt so unverwandt auf den leeren Teller, als zähle sie die Krümel.
Er geht zu ihr, setzt sich neben sie. Ihr Duft ist immer noch frisch. Ihre grauen Haare sind am Hinterkopf zu einem Kranz geflochten. Sie trägt eine Seidenbluse, deren Farbton irgendwo in der Mitte zwischen Silber und Gold liegt. Ihre alten Hände zittern ein wenig. Er weiß nicht, was er sagen soll. Sie haben kaum gemeinsame Erfahrungen, über die sie reden können.
»Schön, dass wir alle zusammen sind«, sagt er.
Ihre Augen, deren trüb gewordene Linsen sie sich vor ein paar Jahren durch neue hat ersetzen lassen, liegen tief in den geröteten Höhlen. Sie starrt ihn sowohl fragend als auch eine Spur – den Eindruck hat er – manisch an. Urplötzlich legt sie ihm ihre Hand auf den Unterarm. Er sieht es mehr, als dass er es spürt, weil das knochige Gebilde kaum noch Gewicht hat. Höchstens die Ringe: Sie trägt eine Menge Gold- und Brillantringe an den Fingern, die vermutlich alle eine Geschichte haben. Er kennt keine einzige davon.
»Ist es auch nicht zu viel für dich, Junge?«
»Für mich?«, wundert er sich.
Sie sieht ihn besorgt an.
»Du darfst dich nicht … überfordern. Das sagen die Ärzte immer.«
Ach so. Das kennt er schon. Er nickt geduldig.
»Es geht mir gut, Oma. Du weißt doch, ich habe seit zehn Jahren keine Anfälle mehr.«
»Ja, ja …«
Aber das will sie gar nicht hören. Sie kann es sich nicht merken, dass er seit zehn Jahren anfallsfrei ist. Ein bisschen hat er allerdings auch den Verdacht, dass sie es sich nicht merken will. Als wäre seine Anfallsfreiheit eine Veränderung, die ihr nicht recht ist, eine von den vielen unnötigen Modernisierungen der Welt. Inzwischen geht er gelassen darüber hinweg.
»Ich fliege morgen nach Holland, nach Amsterdam.«
»So, nach Holland?«, schüttelt sie den Kopf. »Ihr jungen Leute seid ja immer unterwegs.«
Als jung im Sinn von ihr jungen Leute empfindet er sich eigentlich nicht mehr. Aber aus der Perspektive einer Fünfundneunzigjährigen muss man die Formulierung wohl uneingeschränkt gelten lassen.
»Ja«, sagt er. »Nach Holland. Und ich möchte bei der Gelegenheit Tante Lisa besuchen. Soll ich ihr irgendetwas ausrichten?«
Lisa – seine Tante – ist ihre Tochter, also die Schwester seines Vaters und seines Onkels. Soweit er weiß, hat keiner aus der Familie mehr Kontakt zu ihr. Deswegen ist Tante Lisa auch nicht hier, auf der Feier des fünfundneunzigsten Geburtstags ihrer Mutter. In der Familie wird schon lange nicht mehr über Tante Lisa gesprochen.
Seine Großmutter richtet sich auf, ihr Gesichtsausdruck verändert sich, wird bitter. Was die Ehrungen und Lobreden in den vergangenen drei oder vier Stunden nicht vermocht haben, bewirkt der Unmut, jetzt, auf der Stelle: Plötzlich ist sie hellwach.
»Du willst Lisa besuchen?« Sie schweigt. Möglicherweise überfordert sie das Thema. Doch schließlich nickt sie: »Du kannst sie besuchen, wenn du das möchtest. Aber du wirst nichts daran ändern, wie es ist, falls du das im Sinn haben solltest. Manche Dinge lassen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen.«
Es überrascht ihn, wie klar sie auf einmal formuliert. Offenbar war ihre mentale Abwesenheit bei der Laudatio seines Vaters doch keine Folge ihres Geisteszustands. Sie hat es geschafft, fünfundneunzig Jahre alt zu werden. Das geht nur, wenn man seine Energien auf das Wesentliche konzentriert und den Rest geduldig aussitzt.
»Wäre denn dein Geburtstag nicht ein guter Anlass, es zu versuchen?«, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Es gibt Dinge, die könnt ihr jungen Leute nicht verstehen.«
»So jung bin ich nicht mehr.«
»Du weiß gar nicht, was das ist: alt werden.«
»Um noch einmal auf meine Reise zurückzukommen …«
»Es gibt Dinge, die werden sich nie ändern. Es wird nie anders sein, als dass die Menschen alt werden – alt, krank und
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