Was Liebe ist
Farbe der Spotstrahler.
Sie hat in der Pause ihren Lippenstift nachgezogen. Sehr leise singt sie Stella by Starlight. Danach verharrt sie einen Moment lang reglos vor dem Mikrofon und macht nach dem Applaus eine überraschende Ankündigung: »Das nächste Stück ist für einen neuen Freund.«
Er horcht auf. Ein neuer Freund? Er nimmt an, dass sie inzwischen weiß, dass er im Publikum sitzt, auch wenn sie ihm das nicht signalisiert hat. Ist er also der neue Freund? Sind sie überhaupt befreundet? Und welches Stück könnte für ihn sein? Eigentlich gibt es nur eines, das sie ihm angesichts ihrer kurzen Geschichte widmen könnte: My Favorite Things .
Wenn Piet nicht neben ihm säße, wäre er jetzt vielleicht glücklich. Dabei kann er gar nicht wissen, ob er Zoes Ankündigungnicht falsch und zu ichbezogen versteht. Sie hat ihn dabei nicht angesehen. Das Publikum im A-Trane ist klein und kundig und intim. Wahrscheinlich sind alle im Raum ihre Freunde.
Kleine Septimen und Nonen, mal chromatisch aufgereiht, mal episch verklingend, winden sich um einen geheimnisvollen melodischen Kern, den er nicht zu fassen bekommt. Zoe hört zu, lässt sich Zeit. Sie führt das Mikrofon mit beiden Händen ganz dicht an die Lippen. Sie kennt ihre Bühnenwirkung genau, sie hat ihr Publikum im Griff. In eine der verklingenden Septimen hinein singt sie: You don’t know … Danach schließt sie die Augen und haucht erst nach einer weiteren spannungsgeladenen Pause: … what love is …
Das ist die Erlösung, auf die alle gewartet haben. Das Publikum applaudiert kurz. Der Pianist schlägt einen seiner selbstverliebt erweiterten Septakkorde an, und Zoe bettet ihre Stimme in das anschließende Auf- und Absteigen der Melodie: Til you’ve learned the meaning of the blues …
You don’t know what love is … Auf einmal fügt sich alles zusammen, aber es ist subtil. Zoe meint nicht: Ich habe gestern darauf gewartet, dass du zu mir ins Bett kommst, weil ich mich nach dir gesehnt habe und mit dir geschlafen hätte.
Das wäre zu einfach: Die Frau, die sich danach verzehrt, vom Mann genommen, erobert zu werden – so ist es nicht. Welcher Mann erobert heute noch, und welche Frau lässt sich erobern? Heute ist sich zu lieben oder nicht zu lieben ein kühler Balanceakt. Die Entscheidung darüber, ob man Sex hat oder nicht, wird nicht mehr im Himmel getroffen, sondern auf der Erde. Man weiß, es kann gut werden oderauch nicht. You don’t know how lips hurt until you’ve kissed and had to pay the cost …
Er atmet kaum. Für ein paar Minuten ist Zoe in dem vielfarbigen Licht für ihn ein Wesen aus einer höheren Dimension. Sie und der Song sind eins. Was er erlebt, löscht seine Gedanken aus. Er hat Angst, dass ihn all das zu sehr aufwühlt. Er hat Angst, dass er dem, was vielleicht kommt, nicht gewachsen sein könnte. Until you loved the love you had to lose.
Piet sitzt wieder mit seinem ewigen Lächeln da, und er hat sogar einen plausiblen Grund zu lächeln. Wahrscheinlich versteht er den Song als Entwarnung: Wer nicht weiß, was Liebe ist, der hat noch nicht geliebt.
Das Konzert ist vorbei, sie sitzen zu viert am Tisch. Er sitzt zwischen Piet und Ivo Reich, dem Pianisten. Zoe sitzt rittlings auf dem Stuhl ihm gegenüber. Die Konstellation ist mehr als unpassend für eine ungezwungene Unterhaltung. Er möchte Zoe irgendein Signal geben, das über eine schlichte Begrüßung hinausgeht. Er sollte sich für den Song bedanken. Noch an die kontrastreiche Bühnenbeleuchtung gewöhnt, empfinden seine Augen nun alles als blass und flach.
Zoe greift nach der Flasche Bordeaux, die auf dem Tisch steht. Obwohl sie und Ivo Reich ihr Publikum begeistert haben und der Applaus erst nach zwei Zugaben verebbt ist, wirkt sie nicht entspannt oder befreit, sondern fast gereizt. Sie gießt sich ihr Glas voll.
»Du warst wundervoll«, sagt Piet pflichtschuldig.
Ein Techniker räumt Mikrofone und Verstärker von der Bühne. Irgendwie ist es so, als würde er auch alles anderemitnehmen: die Musik, den Gesang, den Zauber. Sein oder nicht sein: Die Bühnenwelt ist eine Illusion. Wahrscheinlich war auch Zoe eine Bühnenillusion. Jetzt trinkt sie. War sie ihm als Illusion lieber? Illusionen brauchen sich nicht zu betrinken. Es gibt keine Wirklichkeit, die sie aushalten müssen.
Sie sagt: »Der Bordeaux ist nicht besonders gut.« Sie füllt ihr Glas trotzdem wieder auf. Das ging ziemlich schnell.
Piet wendet sich an Ivo Reich: »Du hast einen neuen Fan.
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