Was Liebe ist
jeder Süchtige, bei dem eine gewisse Schwelle des Verlangens überschritten ist, versteht sie jetzt keinen Spaß mehr.
»Mach dich nicht lächerlich«, sagt sie.
»Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Das ist fair.«
»Okay, ich hab’s schon kapiert. Du hast weder in der einen noch in der anderen Hand ein Feuerzeug.«
»Dann weißt du ja, was du tun kannst.«
»Das ist absolut nicht komisch.«
Nicht zu Zoe, sondern zu ihm sagt Piet: »Hat diese junge Frau eigentlich auf Sie gehört?«
»Beim Hütchenspiel?«
»Ja. Hat sie Ihnen vertraut?«
»Nein«, sagt er.
»Nein?«
»Sie hat mir noch mehr misstraut als dem Hütchenspieler.«
»Wie dumm«, sagt Piet. »Aber Zoe vertraut Ihnen ja. Also welche Hand soll ich öffnen? Sagen Sie es mir. Retten Sie die arme süchtige Zoe.«
Piet dreht sich auf seinem Stuhl herum und streckt nun ihm statt Zoe die geschlossenen Fäuste entgegen. Die Haut auf den Handrücken spannt sich rissig über die Knöchel und zeigt erste Anzeichen von Altersflecken. Aber es ist noch kein Zittern zu erkennen, die Fäuste schweben ruhig über der Tischplatte.
Er sollte gehen, sollte sich nicht in das hier mit hineinziehen lassen. Er steht auf und geht zum Nachbartisch. »Entschuldigung, darf ich?«, sagt er und nimmt ein Feuerzeug, das dort liegt. Er lässt das Flämmchen zünden und hält es Zoe an die Zigarettenspitze. Sie zieht und bläst den Rauch aus.
»Danke.«
»Ich gehe jetzt«, sagt er.
»Schon?«
»Ist besser so.«
Piet lässt die nunmehr nutzlos gewordenen Fäuste sinken.
Zoe steht auf. »Sehen wir uns wieder?«
»Ich fliege morgen Abend nach Amsterdam und von da aus zurück nach Frankfurt. Berlin steht vorerst nicht mehr auf meinem Reiseplan.«
Zoe legt die Zigarette in den Aschenbecher. Sie küssen sich zum Abschied rechts und links auf die Wange. Es ist ihre erste Berührung. Und ihre letzte. Die Berührung ist sanft. Er spürt sie noch auf der Straße. Dagegen ist die Berührung der Nachtluft – obgleich belebend und herbstlich – ein wenig enttäuschend. Es ist weit nach Mitternacht. Unregelmäßigkeiten im Schlaf-Wachrhythmus gehören zu den häufigsten Anfallsauslösern. Er ist froh, das Konzert gehörtzu haben, es hat ihn berührt, es glüht immer noch in ihm – aber er sollte sich nicht dazu verleiten lassen, sein Leben in Frage zu stellen, nur weil es bestimmten Einschränkungen unterliegt.
ZEHN
SONNTAGABEND UM SIEBEN UHR ist er am Flughafen Tempelhof. Das Hauptgebäude stammt aus den dreißiger Jahren und war einmal das längste Gebäude der Welt. Es liegt bogenförmig und schier endlos mitten in der Stadt an einer sechsspurigen Straße.
Die Dämmerung wölbt sich dunkelblau und klar über die Fassade aus großen marmorierten Steinquadern. Schmale, hoch aufragende Fenster bilden die Front der Ankunftshalle. Die strenge, martialische Architektur des Faschismus. Dass man seinen Trolley hinter sich herzieht, im Handumdrehen eincheckt und kurz darauf losfliegt, ohne dabei eine weihevolle Ehrfurcht vor diesem Triumph der Technik zu empfinden, konnte man sich vor sechzig Jahren nicht vorstellen.
Er geht zum KLM-Schalter, an dem sein Ticket hinterlegt ist. Die Angestellte, die die Formalitäten erledigt, ist sehr hübsch. Dass er Epileptiker ist, gibt er wie üblich nicht an. Er denkt darüber schon lange nicht mehr nach. Aber da er vor zwei Tagen den Anflug einer epileptischen Aura empfunden hat oder zu empfinden glaubte, erinnert er sich daran.
Der Check-in geht ohne viele Worte vor sich. Wie immer wählt er einen Gangplatz. Er nimmt seine Bordkarte entgegenund sieht sich nach einem Wegweiser zum Gate um. Dabei fällt ihm eine schmale, dunkel gekleidete Gestalt auf, die durch die Eingangstür der Halle tritt und zwischen den Marmorpfeilern stehen bleibt. Es vergehen ein paar Sekunden, bis ihm klar wird, dass es Zoe ist.
Ihr Blick gleitet durch die große Halle des Naziflughafens. Da es sich bei ihrem Erscheinen schwerlich um Zufall handelt, darf er annehmen, dass er es ist, nach dem sie sucht. Unschlüssig, immer noch suchend, kommt sie die Treppe herunter auf die Ebene der Check-in-Schalter mit dem glänzenden Linoleumboden. Der Tragegurt eines kleinen, schlaff gefüllten Rucksacks läuft über ihre rechte Schulter. Was hat sie vor, warum ist sie hier?
Sie entdeckt ihn und winkt. Als sie ihn erreicht, verkündet sie: »Ich komme mit nach Amsterdam!«
»Okay …«, sagt er.
»Es sei denn, du hast ein Problem damit.«
»Nein«, sagt er,
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