Was Liebe ist
attraktiv und strahlt darüber hinaus so etwas wie Erfahrung, vielleicht sogar – was auch immer das ist – erotische Erfahrung aus.
»Wo übernachtest du eigentlich? Auch hier im Hotel?«
»Nein«, sagt er. »Ich bin seit gestern in Berlin.«
»Du willst noch zurück? Das ist ziemlich weit.«
»Ich nehme ein Taxi. Das geht schon.«
»Wozu? Morgen ist Sonntag.«
»Wer weiß, ob sie hier noch ein Zimmer haben.«
Sie schweigt. Dann sagt sie: »Es würde sich wohl auch hier eine Lösung finden.«
Er sagt nichts, aber innerlich stutzt er. Gab es da eine Andeutung zwischen den Zeilen, die man als Angebot interpretieren könnte, bei ihr zu übernachten, oder bildet er sich etwas ein? Eine Lösung findet sich immer – jedenfalls auf dem luxuriösen Niveau ihrer Probleme. An was für eine konkrete Lösung denkt sie also? Sie sind nicht blutsverwandt, sie könnten miteinander schlafen. Moralisch und rechtlich ist dagegen nichts einzuwenden. Und wäre das nicht fast schon – wie der One-Night-Stand – ein durchaus zeitgemäßes Sexstereotyp: mit einer alten Freundin, einem alten Freund ins Bett zu gehen? Braucht man mit Mitte dreißig für Sex noch Liebe? Reichen Zuneigung, Sympathie, Vertrautheit dafür nicht allemal aus? Ist Liebe nicht überhaupt eine Illusion und Sex die Realität, mit der man zurechtkommen muss?
Sein Handy meldet den Eingang einer SMS. Er wirft einen kurzen Blick auf das Display, die SMS ist von Zoe. Er lässt das Telefon zurück in Sakkotasche gleiten. Er will die SMS in Ankes Gegenwart nicht öffnen.
»Ja, natürlich«, sagt er, »aber alle meine Sachen sind im Hotel. Ich denke, es ist besser, wenn wir es so lassen, wie es ist, und ich zurück nach Berlin fahre.«
Sie nickt. »Was Wichtiges?«
»Die SMS? Nein …«
Er ist sich nicht sicher, ob sie ihm glaubt. Sie kennen sich lange und gut. Wahrscheinlich hat sie ein Gespür dafür, wenn er sie belügt.
»Ich geh rein«, sagt sie. »Mir wird kühl.«
»Ich komme gleich nach«, sagt er.
Ist sie enttäuscht? Er denkt nicht darüber nach, sondern zieht, sobald er allein ist, das Handy aus der Tasche und öffnet die SMS. Sie ist sehr kurz: A-Trane, 22 Uhr, Z. Z – wie Zorro, der große Unbekannte. Er denkt an Zoe in ihrem schwarzen T-Shirt: LOVE, FIGHT. Letztlich ist sie das für ihn auch nach dem gestrigen Abend noch: eine große Unbekannte. Er weiß fast nichts über sie. Er weiß nur, dass er sie wiedersehen muss.
NEUN
DAS A-TRANE IST , wie sich herausstellt, ein Jazz-Club in Charlottenburg. Über dem Eingang leuchten die Buchstaben des Namenszugs rot auf den fünf waagerechten Linien eines Notensystems aus Neonröhren. Das A ist von einer stilisierten blauen Note umgeben. Blue Notes sind die besonderen Töne, die dem Blues seine melancholische Klangfarbe verleihen. Das B, mit dem er Niko an den Boogie-Woogie heranführen wollte, war eine blue note .
Es ist wenige Minuten vor zehn, als er ankommt und aus dem Taxi steigt. Ein Plakat an der Kasse informiert den Besucher, dass heute Abend das Duo Zoe Z., vocals , und Ivo Reich, piano , im Club gastiert. Er weiß nicht, wofür das Z. hinter Zoe steht. Vielleicht hat sie es aus klanglichen Gründen eingefügt. Er vermutet, dass Zoe ihren Namen als Sängerin englisch ausspricht, mit klingendem i, also ungefähr Soïsett .
Schichten aus farbigem Zigarettendunst schweben über der ausgeleuchteten Bühne. Der Auftrittsbereich ist klein, mehr eine erhöhte Raumecke. Neben dem schwarz glänzenden Stutzflügel steht ein Mikrofon. Das Publikum sitzt an Bistrotischen und auf Hockern. Der Club bietet vielleicht sechzig oder siebzig Gästen Platz.
Auf dem Programmflyer an der Kasse sieht Zoe ein bisschen überheblich und extravagant aus. Der Kurzbiographie unter dem Bild entnimmt er, dass sie ihre Karriere als Sängerin in einer Rockband in Amsterdam begonnen hat. Das hat sie ihm nicht erzählt. Ivo Reich, ihr musikalischer Partner, sieht aus wie Joseph Beuys: schmales Gesicht, so knochig wie ein Schädel.
Er bestellt ein Wasser und sieht sich um. Ob Piet hier ist? Er kann ihn im Publikum nicht entdecken. Es ist kaum anzunehmen, dass Piet einen Auftritt seiner Lebensgefährtin verpasst, zumal Zoe ja nicht nur seine Lebensgefährtin ist, sondern auch seine Schülerin oder eine Art Protégé.
Kurz nach zehn kommen Zoe und ihr Pianist auf die Bühne – kein großer Auftritt mit Gehabe, sondern ein schlichtes Erscheinen in einem vertrauten, fast freundschaftlichen Kreis. Der Beifall ist
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