Was Liebe ist
Befürchtung, von einem Flugbegleiter, den er voraussichtlich nie wiedersehen wird, für einen panischen Luftneurotiker gehalten zu werden, größer als die Verlockung, sich in Zoes Augen als loyaler Verfechter ihrer Interessen zu erweisen?
Kurz darauf – der Flugbegleiter sitzt bereits wieder – zerreißt ein schriller Warnton das gleichmäßige Turbinenund Lüftungsrauschen in der Maschine. Mit einem abrupten Bremsmanöver, das den Rumpf erschüttert, kommt der kleine Jet zum Stehen. Unmittelbar danach meldet sich die Stimme des Captains aus dem Cockpit. Er entschuldigt sich für die unsanfte Bremsung: Es gebe ein unbedeutendes technisches Problem mit dem rechten Triebwerk. Man werde noch einmal in die Parkposition zurückkehren und die Sache beheben lassen. Das sei keineswegs beunruhigend, sondernreine Routine. Er hoffe, dass sich die Ankunft in Amsterdam nur unwesentlich verzögere. Zoe sagt nichts. Ihre Angst sitzt zu tief, als dass sie dies als Triumph empfinden könnte.
Der Start – eine halbe Stunde später – verläuft ohne Probleme. Als die Maschine beschleunigt, sagt Zoe: »Hältst du meine Hand?«
Ihre Hand ist schmaler als seine, und er umschließt sie ganz. Sie ist kühl. Während die Maschine aufsteigt, wärmt sie sich ein bisschen auf. Auf dem Horizont Richtung Westen liegt ein dünner Streifen aus blauem Licht, der sanft flimmert. Dorthin fliegen sie.
»Nachdem du gestern Abend gegangen bist«, sagt Zoe, als die Anschnallzeichen erloschen sind, »hat Piet einen unsäglichen Streit mit Ivo vom Zaun gebrochen. Die Sache war absolut indiskutabel. Ich habe ihn verlassen. Ich nehme an, das ist es, was du dich fragst. Du denkst, Piet wäre ein friedlicher professoraler Typ. Ein netter älterer Herr mit Charme, der eine jüngere Frau liebt, womit er ja nicht der Einzige wäre. Aber das stimmt nicht. Piet ist paranoid und gewalttätig.«
Er sagt: »Was ist geschehen?«
»Piet ist zum Flügel gegangen und hat You don’t know what love is gespielt – auf seine Weise – und zu Ivo gesagt: So geht das! Und dann wollte er, dass ich singe. Aber dazu hatte ich keine Lust. Ich bin nicht besonders gut, wenn Piet am Piano sitzt. Er lässt mir keinen musikalischen Spielraum, und ich habe gesagt: Lass das Piet. Ich singe nicht mehr.«
Die Maschine hat ihre Reisehöhe erreicht. Dem Flugbegleiter ist die Geschichte mit dem Propeller unangenehm.Er ist jetzt ausgesprochen freundlich und bringt ihnen einen Teller Snacks und einen Stapel Zeitschriften.
»Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?«
»Eine Flasche Champagner«, sagt Zoe.
»Wie ging die Geschichte weiter?«, sagt er.
»Piet hat zu mir gesagt: Komm jetzt endlich, zier dich nicht so. Und ich habe noch einmal nein gesagt, ich singe nicht mehr. Daraufhin hat Piet mit dem Ellbogen auf die Tasten eingehauen, so dass alle, die noch da waren – nicht allzu viele zum Glück –, ihn verdattert angesehen haben. Er ist aufgesprungen und zu Ivo gegangen und hat gesagt: Aber zu deinem Geklimper singt sie! Du musst sie wirklich gut ficken.«
Ist das Piet? Ist dass der Mann, der ihm gestern Morgen gegenübergesessen hat und alles in allem recht ruhig mit der Situation umgegangen ist? Sie bekommen den Champagner, einen Moët & Chandon mit zwei echten Gläsern. Er öffnet die Flasche und schenkt ihr ein.
Sie sagt: »Vielleicht stirbt es sich betrunken leichter.«
»Du stirbst heute nicht«, sagt er.
»Woher willst du das wissen?«
Sterben. Er denkt an seinen Traum. Das Gefühl, ersticken zu müssen, war für ihn immer real, und doch ist er nie gestorben, ist er immer wieder ins Leben zurückgekehrt, waren es nur Anfälle. Vielleicht hat er sich sogar nie lebendiger gefühlt als nach seinen Anfällen. Alles kehrt zurück, die Erinnerung, die Wahrnehmung der Dinge. Man liegt auf dem Boden, man fühlt sich nicht gut, vielleicht hat man sich verletzt, vielleicht auf die Zunge gebissen – und doch hat ihngerade das immer zutiefst wissen lassen, dass er lebt: das Gefühl, wieder da zu sein, trotz rasender Kopfschmerzen. So schnell stirbt man nicht.
Er sagt: »Ich weiß es ganz einfach.«
Die schnelle Rotation lässt den Propeller im Blitzlicht der Positionsleuchte zu einer blass schimmernden Scheibe werden. Kein Stottern, keine Aussetzer.
Die Maschine setzt pünktlich in Schiphol auf, er hat nicht zu viel versprochen: Sie leben noch.
Als er sagt, dass er ein Zimmer im Marriott reserviert hat, rümpft Zoe die Nase. Ihrer Beschreibung nach ist das
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