Was Liebe ist
Marriott ein langweiliger Kasten an einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße außerhalb des Grachtengürtels, wo man auf gar keinen Fall absteigen sollte. Sie hat in Amsterdam gelebt, sie muss es wissen. Sie kennt ein Hotel in den Walletjes . Das sagt ihm nichts, es klingt aber nett und holländisch.
Es stellt sich heraus, dass die Walletjes das Amsterdamer Rotlichtviertel sind. Das Taxi biegt nach einer knappen halben Stunde Fahrt auf eine schmale, einspurige Straße, die parallel zu einer Gracht verläuft. Auf dem Wasser spiegelt sich in sanften Wellen eine Neonreklame von der anderen Seite: Live Porno Show . Danach fahren sie an einem Erotic-Outlet-Laden im Souterrain eines Hauses mit großen freskenartigen Frauenakten in den Schaufenstern vorbei. Kurz darauf kommt das Taxi zum Stehen.
Neben dem Erotikmarkt führen fünf Stufen hinauf zu einem Hoteleingang. Zoe lässt ihm an der Rezeption den Vortritt. Damit ist es seine Sache zu entscheiden, ob sieein Zimmer brauchen oder zwei. Sie haben nicht darüber gesprochen. Reisen sie als Paar oder einzeln? Was sind sie überhaupt: zufällige Bekannte, Freunde, eine Art Interessengemeinschaft als vorübergehende Aussteiger aus ihrem gewohnten Leben?
Er nimmt zwei Zimmer. Es ist die einzig mögliche Entscheidung. Dass sie schon einmal gemeinsam in einem Hotelzimmer übernachtet haben, spielt keine Rolle. Es war eine Ausnahme, ein Notfall. Die Situation jetzt ist eine andere. Zoe zu fragen, ob sie ein Zimmer für ausreichend hält, wäre peinlich, und sie zu übergehen und selbstverständlich ein Doppelzimmer zu buchen, aufdringlich.
Das Hoteltreppenhaus ist schmal und steil. Der taubenblaue Teppichboden, mit dem die Stufen belegt sind, ist an den Kanten abgescheuert. Verglichen mit den Marriott-Tarifen wohnen sie hier spottbillig. Er bietet ihr an, sich das Zimmer auszusuchen.
Das erste, das sie besichtigen, ist klein, mehr eine Kammer. Die rechte Wand ist nicht besonders fachmännisch mit weißen Holzbrettern vertäfelt, an denen ein Waschbecken hängt. Das Bett ist kaum breiter als ein Einzelbett. Das andere Zimmer ist größer, weniger provisorisch. Es gibt einen Tisch und einen geräumigen weißen Schleiflackschrank. Das Bad ist abgetrennt, das Bett ein französisches Doppelbett.
Er sagt: »Ich nehme das erste Zimmer.«
Zoe bleibt an der Tür stehen.
»Gut«, sagt sie. »Dann kann ich mich revanchieren.«
»Revanchieren?«
Sie lächelt. »Ich bin dir noch eine Nacht in einem anständigen Hotelzimmer schuldig.«
»Eine halbe Nacht«, sagt er.
»Ich zahle mit Zinsen zurück«, sagt sie. Und als er nichts dagegen einwendet, schließt sie langsam die Zimmertür.
Er erwacht und sieht auf seine Uhr. Das Ziffernblatt leuchtet schwach – es ist halb zwei. Blasse Farben dringen durch den gewellten Vorhang ins Zimmer, hell genug, um aufzustehen und ins Bad zu finden. Mit gut fünf Stunden Verspätung nimmt er seine Topamax. Er kann kaum glauben, dass er die Einnahme vergessen hat – eigentlich wäre im Flugzeug der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Er kann sich nicht erinnern, wann ihm das zuletzt passiert ist.
Er kehrt ins Zimmer zurück. Zoe bildet mit der Bettdecke eine Einheit aus Licht und Schatten. Ein Bein ruht leicht angewinkelt auf der Decke, die sich an ihrem Po aufwirft und staut. Von dort fließt sie über die Mulde ihrer Taille auf die Seite des Rückens, den sie bis zu den Schultern bedeckt. Darüber ihr Nacken, bläulich schimmernd. Ihr Gesicht ist ins Kissen gedreht, so sehr, dass man sich fragt, wie sie noch atmen kann.
Sex ist ein Mittel, denkt er, um irgend etwas zu erreichen: einen rauschhaften Zustand oder Selbstbestätigung oder Intensität. Einen Beweis des eigenen Daseins, einen Beweis, der unmittelbarer und näher ist als jede andere Erfahrung, die man machen kann, ohne das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
Doch er hat dieser Erfahrung immer auch misstraut. DerBewusstseinsverlust in den Sekunden der sexuellen Ekstase hat keine medizinische Nähe – wie oftmals irrtümlich angenommen – zu einem epileptischen Anfall, doch das, was einem bei einem Anfall zwangsweise genommen wird, muss man beim Sex bereit sein, für einen Moment freiwillig aufzugeben: die Kontrolle über sich selbst.
Etwas in ihm hat sich dagegen immer gewehrt. Er hat nie mehr an sich herangelassen als das, was er zur sexuellen Erregung braucht: die Nacktheit und Bereitschaft der Frau. Er hat immer mit offenen Augen geliebt.
Heute war es anders, aber er kann
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