Was Liebe ist
sich kaum daran erinnern, wie es war. Die Details für sich haben keine Bedeutung. Hat er sich fallen lassen? Hat er geliebt? Liebt er? Er weiß es nicht – woher auch? Um zu wissen, ob er geliebt hat, müsste er wissen, was Liebe ist.
ELF
ALS ER AUFWACHT , empfängt ihn das Amsterdamer Billigzimmer mit einem Hauch von zeitloser Schönheit. Wie eine klassische Statue steht Zoe am Fenster, gehüllt in ein weißes Laken, das eine Schulter unbedeckt lässt. Man kann die Linien ihres Körpers unter dem Faltenwurf des hellen Stoffs erahnen. Sie sieht aus dem Fenster. Ihr Gesichtsausdruck im Profil ist entspannt.
Alles im Zimmer, außer dem Boden, der einmal dunkelblau war, ist weiß, beziehungsweise von einer etwas matten, gedämpften Helligkeit. Das Fenster, an dem Zoe steht, ist geöffnet und reicht fast bis zum Boden. Der linke Vorhangschal, cremefarben, ist ein Stück zur Seite gezogen. Zoe streckt den unbedeckten Arm zum Fenster hinaus, weil sie raucht.
Ohne zu erkennen zu geben, dass er aufgewacht ist, sieht er ihr dabei zu, wie sie sich hinausbeugt, um an ihrer Zigarette zu ziehen und den Rauch kurz darauf in die Herbstluft auszuatmen. Im Bett spürt er es nicht, aber dort am Fenster muss es kühl sein. Er erkennt es daran, dass Zoe einen Fuß auf den anderen stellt. Aber sie ist Raucherin. Sie nimmt es in Kauf, in der hereindringenden kühlen Luft zu stehen.
Er riecht die Zigarette jetzt auch, weil Spuren des Rauchs zusammen mit der Herbstluft ins Zimmer wehen. Wenn Zoe sich vorbeugt, um zu ziehen, spannt sich das Laken um ihren Körper, und ihre Taille und ihr Po zeichnen sich unter dem Stoff ab.
Auf einem Bord neben dem Fenster steht eine schmale Vase mit einer einzelnen, wahrscheinlich künstlichen Rose. In einem Bilderrahmen darüber hängt ein verblasster Kunstdruck, ein Rückenakt von van Gogh. Von wem auch sonst hier?
Wenn er malen könnte, würde er Zoe malen, wie sie dort am Fenster steht und raucht.
»Guten Morgen«, sagt er.
Sie dreht sich um. »Guten Morgen«, sagt sie auch und geht in die Hocke. Neben ihren Füßen steht ein flacher Porzellanaschenbecher. Sie drückt die halb gerauchte Zigarette aus. »Unmöglich, ich weiß. Ich wollte dich nicht wecken. Ich dachte, wenn ich mich erst anziehe …«
»Kein Problem«, unterbricht er sie. »Das mit dem Laken war eine gute Entscheidung. Steht dir gut.«
»Danke. Ich sollte morgens nicht rauchen.« Sie schließt das Fenster. »Hast du nie geraucht?«
»Nein.«
»Nie probiert?«
»Nie.«
»Gut«, sagt sie. »Dann muss ich mir keine Sorgen machen, dass du durch mich rückfällig wirst.«
»Vielleicht sollte ich mit dem Rauchen anfangen.«
»Bist du wahnsinnig?«
»Dann hätten wir etwas gemeinsam.«
»Na toll! Ich hätte dich süchtig gemacht.«
Vielleicht hat sie das sowieso schon. Er denkt an die vergangene Nacht. Sollten sie darüber reden? Gibt es etwas, das dazu gesagt werden muss? Er kann sich nicht daran erinnern, jemals über den ersten Sex geredet zu haben. Vielleicht müsste man das. Vielleicht müsste man es, um sich klarzumachen, in welche Richtung es danach weitergehen soll oder kann. Sex ist das Entscheidungskriterium. Sex ist die Wahrheit – jedenfalls die, die eine Zeitlang eine gewisse Gültigkeit beanspruchen kann.
Sie kommt zum Bett und lässt dabei das Laken wie eine Schleppe von ihren Schultern gleiten. Als sie gestern miteinander geschlafen haben, geschah es in den schwachen blassen Neonfarben von der Straße, die in der Zimmerdunkelheit schwebten. Jetzt sieht er Zoes Körper zum ersten Mal bei Tageslicht. Ihre Haut ist hell wie die Scheibe eines Apfels, ihre Schultern sind gerade und schmal, so schmal wie ihre Taille. Die Proportion ihres Oberkörpers zur Länge ihrer Beine empfindet er als perfekt. Ihre Schenkel berühren sich an der Innenseite nicht – die Beine einer Tänzerin. Sie schlüpft unter die Bettdecke und rollt sich auf ihn.
Er sagt: »Das hast du schon.«
»Was?«
»Mich süchtig gemacht.«
»Wonach?«, flüstert sie ihm ins Ohr.
Sie lieben sich. Diesmal ist das, was geschieht, für ihn klarer als in der Nacht – aufregend, aber mit Beteiligung seines Bewusstseins. Er weiß, was er tut, mit welchen Berührungener versucht, ihre Lust zu steigern, ein Ausprobieren, ein Vorwärts-Tasten, er kennt sie ja nicht.
Er glaubt zu spüren, dass sie über einige sexuelle Erfahrung verfügt, in die er sich mit dem, was er tut, einreiht. Sie vergleicht. Natürlich bedeutet das nichts, denn so ist es
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