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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Krankheit Silikose. Sie wird durch Silkatstaub hervorgerufen.«
    »Ihr Vater hat es nicht überlebt?«
    Beekman atmet einmal durch, ein kurzes Zeichen dafür, dass er bewegt ist. »Er hat das alles überlebt, aber es wäre wohl besser gewesen, er hätte nicht so eine starke Natur gehabt. Es kam in den Baracken vor, dass kranke Insassen morgens tot im Bett lagen. Dann war es üblich, ihnen die Häftlingsnummer abzutrennen, um damit an eine zusätzliche Ration Brot und Suppe zu kommen. Das war allgemeinbekannt, aber die Lagerleitung beschloss, an einem Barackengenossen meines Vaters deswegen ein Exempel zu statuieren. Man fesselte dem Mann Arme und Beine mit Stacheldraht und umwickelte danach den ganzen Körper damit. Er musste einen Tag und eine Nacht auf dem Appellplatz stehen, und die Lagerinsassen wurden gewarnt, ihm zu helfen. Der Draht zerschnitt ihm die Kleider und die Haut, seine Schreie waren die ganze Nacht über zu hören. Mein Vater schlich irgendwann zu ihm, um ihm im Schutz der Dunkelheit wenigstens etwas Wasser zu geben, aber er wurde entdeckt. Daraufhin wurde er zu hundert Knüppelhieben verurteilt, aber niemand, schon gar nicht jemand im Gesundheitszustand eines der damaligen Lagerinsassen, überlebt hundert Knüppelhiebe. Die ausgesprochene Strafe war also eine öffentliche Exekution. Die Wachen gingen dabei durch die Reihen, um zu kontrollieren, ob auch alle Lagerinsassen zusahen. Zum Schluss muss es gewesen sein, als würde nur noch ein Haufen Lumpen ausgeklopft, aber der Lagerleiter zählte immer noch weiter. Das volle Pensum der Schläge musste verabreicht werden, obwohl mein Vater längst tot war. Wir hätten von ihm und seinem Schicksal niemals etwas erfahren, wenn uns nach dem Krieg nicht ein Überlebender gesucht und gefunden hätte. So wie Sie jetzt. Vielleicht will irgendeine Macht, dass das Schicksal meines Vaters nicht in Vergessenheit gerät.« Er macht eine Pause und fügt nach einer Weile hinzu: »Sie hätten mich nicht aufsuchen müssen. Warum sind Sie gekommen?«
    »Ich weiß es nicht. Es schien mir selbstverständlich. Ich wüsste keinen anderen Grund.«
    Beekman winkt eine Bedienung heran und lässt das kalt gewordene Essen abtragen. »Es gäbe schon einen Grund. Sie könnten sich für Ihre Firma entschuldigen.«
    Er nickt. »Ja, das wäre eine Möglichkeit.«
    »Wollen Sie das?«
    Er zögert. Doch Beekman wirkt so frei von jedem Vorurteil gegen ihn, dass er schließlich sagt, was er denkt: »Das Problem ist, dass ich mich nicht schuldig fühle. Es kostet mich nichts, Ihnen gegenüber eine Entschuldigungsformel auszusprechen. Ich habe mich vor ein paar Tagen für den von der Bundesregierung geplanten Entschädigungsfonds ausgesprochen. Ich bin Jurist. Ich tue dies aus Überzeugung, aber letztlich aus einem abstrakten Rechtsverständnis heraus. Persönlich fühle ich mich von den Dingen nicht betroffen. Ich kann Ihnen eine formale, keineswegs geheuchelte, aber letztlich abstrakte Entschuldigung bieten. Wollen Sie das?«
    Beekman nickt langsam. »Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Ich verstehe den Konflikt, in dem Sie sich fühlen, und die Gedanken, die Sie sich machen. Aber verzeihen Sie, wenn ich das so direkt sage: Es geht bei all dem nicht um Sie.«
    »Ich muss eine Haltung zu den Dingen einnehmen.«
    »Das mag sein. Als Vertreter Ihrer Firma ist das Ihre Aufgabe. Ich zweifle auch nicht daran, dass das, was Sie tun, moralisch aufrichtig ist. Aber Tatsache ist: Sie betrachten die Dinge aus der Täterperspektive. Sie positionieren sich als jemand, der keine Schuld auf sich geladen hat. Warum? Ein Opfer bräuchte das nicht. Ein Opfer braucht nicht eigens auf seine Schuldlosigkeit hinzuweisen.«
    »Ich habe mir die Seite nicht ausgesucht.«
    »Nein, das weiß ich.«
    »Was soll ich Ihrer Meinung nach also tun?«
    »Ich bin kein Christ. Aber in Ihrem Fall, würde ich sagen, ist es ganz einfach: Nehmen Sie die Schuld auf sich.«
    »Das kann ich nicht«, sagt er. »Ich kann nicht nachholen, was mein Großvater versäumt hat. Ich kann es formal tun, aber es werden immer nur Worte sein. Ich bin kein Täter und kein Opfer. Die Geschichte hat mich verschont.«
    Beekman hebt die Hand. »Lassen Sie uns nicht darüber streiten. Sie haben viel getan. Ich danke Ihnen, dass Sie mich aufgesucht haben. Ich danke Ihnen für das Bild.« Er öffnet seine Brieftasche, um das Foto an sich zu nehmen. In einem Klarsichtfach steckt die Aufnahme eines schönen dunkelhaarigen Mädchens von fünf oder sechs

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