Was Liebe ist
sind auch tagsüber besetzt, nicht alle, aber durchaus einige.
Sex ist ein knappes Gut, deswegen ist es begehrt, das ist die ökonomische Grundlage der Branche. Man kann Prostitution nicht eindämmen, indem man sie legalisiert – der niederländische Weg, soviel er weiß. Legalisierung macht Märkte kontrollierbar, aber schafft sie nicht ab. Man müsste die Knappheit des Gutes Sex verringern. Aber wie kann das gehen? Ist ein allgemein akzeptiertes ethisches System denkbar, in dem Sex nicht knapp ist? Er glaubt nicht daran. Sex geht mit zu vielen Emotionen einher, die sich nicht kontrollieren lassen. Liebe, Wollust, Begehren, Eifersucht.
Natürlich ist er eifersüchtig. Er will Zoe nicht teilen. Erbegehrt sie, und die Vorstellung, dass sie allein in Amsterdam zurückbleibt, gefällt ihm ganz und gar nicht. Was wird sie tun? Kaffee trinken, durch die Stadt spazieren, Zeitung lesen und warten? Das ist nicht Zoe. Das ist nicht die Zoe, die mit einem Rucksack am Flughafen Tempelhof aufgetaucht ist. Die ihm beim Sex: Ik hou van jou , ins Ohr flüstert. Und die gestern Morgen spurlos verschwunden ist. Wo war sie? Was hat ihr am Abend leidgetan?
»Stopp!« – Er sagt es, ohne so recht zu wissen, warum. Etwas im Nebel hat ihn alarmiert. Das Taxi ist an einer schmalen Gasse vorübergefahren, in die er einen Mann hat einbiegen sehen – eine blasse Gestalt, nicht sehr groß, mit grauen Haaren, wie er glaubt, auch wenn es nur das flache Grau des Nebels gewesen sein könnte. Er dreht sich um, auf der Straße ist niemand zu sehen. Vielleicht hat er sich geirrt, vielleicht war es nichts. Wie kommt er auf die Idee, dass es sich bei der Gestalt im Nebel um Piet gehandelt haben könnte?
Er versucht, die vage Szene vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen zu lassen. Doch seine Erinnerung ist zu undeutlich, ein verwischter unscharfer Moment, den er nicht anhalten und fokussieren kann. Er macht sich noch einmal klar, dass er kaum mehr gesehen hat als eine blasse Silhouette im Nebel. Es ist Unsinn, sich weiter damit zu befassen.
»Warten Sie hier«, sagt er und steigt aus dem Taxi. Der Nebel hängt kalt über der Straße. Das Pflaster ist mit einem dünnen Feuchtigkeitsfilm überzogen. Er biegt in eine Gasse, die so schmal ist, dass er die gegenüberliegenden Wände mit ausgebreiteten Armen fast berühren kann. Neonreklamen färben den Nebel blassgelb, blassrosa, blassviolett. Diefeuchte Luft ist so schwer, dass man das Gefühl hat, sie müsse sich wie eine zusammenhängende zähe Masse beiseiteschieben lassen.
Zehn oder zwanzig Meter voraus glaubt er im Nebel die Gestalt zu erahnen, die er für Piet gehalten hat. Er beschleunigt seine Schritte. Mal tauchen die Konturen des Mannes auf, mal verschwinden sie wieder. Er hört nur sich selbst. Der Nebel scheint alle anderen Geräusche zu schlucken.
Die Prostituierten in den Koberfenstern sind schemenhafte Gespenster in knappen Dessous, blass wie Spinnweben. Einmal sind es gar keine Frauen, sondern die Schaufensterpuppen eines Sexshops, ausstaffiert mit High Heels, Netzstrümpfen, Strapsgürteln und offenen BHs. Sogar von diesen Puppen fühlt er sich beobachtet, taxiert als Mann, als möglicher Kunde.
Die Reihe der Fenster wird von verschwommenen roten Ziegelwänden und Stapeln alter Müllsäcke unterbrochen. Ist das der Weg zum Hotel? Er ist mit Zoe durch zu viele Gassen des Viertels gegangen, um eine davon wiederzuerkennen. Er muss achtgeben, dass er sich nicht verläuft. Sein Koffer und seine Aktentasche sind noch im Taxi.
Schließlich steht er auf einer Brücke mit gusseisernem Geländer. Über dem schlickigen Wasser der Gracht schweben mehrere Nebelschichten. Kleine lautlose Wellen brechen sich träge an der Kaimauer. Kräuselungen nagen an algenbewachsenen Steinen. Eine Treppe, die rechts hinabführt, ist mit Vogelkot bedeckt. Schwäne treiben auf dem Wasser, im Nebel kaum mehr als Verdichtungen der feuchten weißen Luft.
Die Verfolgung ist sinnlos. Er weiß ja nicht einmal, ob die Gestalt, die er im Nebel manchmal erahnt, bevor sich ihre Konturen wieder auflösen, immer dieselbe ist. Der, den er ursprünglich gesehen hat, könnte längst bei einer Prostituierten sein. Was er hier tut, ist lächerlich. Er beschließt umzukehren. Anstatt Gespenstern hinterherzujagen, sollte er für seine Sache in Frankfurt kämpfen. Seine Maschine geht in etwas mehr als einer Stunde.
Das Taxi kommt am Abflugterminal des Flughafens Schiphol zum Stehen. Der Fahrer dreht sich um und nennt
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