Was Liebe ist
Beekman: »Ich wusste nicht, dass mein Vater als Zwangsarbeiter in Berlin war. Er wurde im Frühjahr 1942 von der Gestapo verhaftet, und danach haben wir ihn nicht wiedergesehen. Alles, was wir wissen, ist, dass er schließlich nach Polen verschleppt worden ist. Wie lange war er bei Ihrer Firma?«
»Etwa ein Jahr. Im Februar 1943 führten Gestapo und SS Razzien durch, um die letzten in der Region verbliebenen Juden zu ergreifen. Man fing sie beim Antreten der Frühschicht ab und brachte sie zu Sammelstellen. Von dort aus wurden sie in den folgenden Tagen nach Osten deportiert. Als Arbeitskräfte wurden sie in den deutschen Firmen durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus Polen, Russland und der Ukraine ersetzt.«
Das Essen wird gebracht, doch weder Beekman noch er greifen zum Besteck. »Gibt es in Ihrem Archiv noch mehr Dokumente über meinen Vater?«
»Nein«, sagt er, »nur dieses Foto. Die Hülle ist eine ehemalige Lohntüte und wurde von der Personalabteilung zur Archivierung benutzt. Die Nummer gibt an, in welcher Abteilung ein Arbeiter jeweils beschäftigt war. Die Fotos wurden für die Werksausweise angefertigt. Es gab auch freiwillige Arbeitskräfte aus dem Ausland, aus Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei. Und nicht alle Zwangsrekrutierten waren Juden. Die Arbeiter waren in Lagern untergebracht, über die Lebensbedingungen dort weiß ich nicht viel.«
»Wissen Sie, was der Zusatz Israel zu bedeuten hat? Harry Israel Beekman?«
»Israel und Sara waren Namen, die Juden ab 1939 zwangsweise tragen mussten. Sie wurden in alle Papiere eingetragen, also auch in die Firmenausweise.«
Beekman legt das Foto auf den Tisch. »Es wundert mich, dass diese Dokumente erhalten geblieben sind. Wieso hat Ihr Großvater das Archiv nach Kriegsende nicht vernichtet? Wiekonnte er sich so sicher sei, dass ihn niemand in Deutschland aufgrund dieser Dokumente anklagen würde?«
»Ich denke, mein Großvater hat das andersherum gesehen. Diese Dokumente belasten ihn nicht, sondern ent lasten ihn. Die Verordnungen der Deutschen Arbeitsfront, der Schriftverkehr mit der Gestapo, die Direktiven aus dem Rüstungsministerium – das Archiv beweist aus seiner Sicht, dass alles, was in unserer Firma geschehen ist, damals Recht und Gesetz war. Es beweist, dass er Ihren Vater vor der Verhaftung durch die Gestapo nicht retten konnte .«
Beekman schweigt eine Weile. Dann sagt er: »Ich danke Ihnen, dass Sie mir das Foto gebracht haben. Diese Dinge sind lange her.«
Es ist ein Angebot, das Thema zu beenden.
»Ihr Vater wurde nach Polen deportiert?«
Beekman schweigt. Wenn er als Holländer Ressentiments gegenüber Deutschen hat, weiß er sie zu beherrschen. Er trinkt einen Schluck Wasser. »Er kam in ein Arbeitslager hundert Kilometer östlich von Warschau. Die Internierten wurden beim Bau einer Straße eingesetzt, aber das eigentliche Ziel dieses Einsatzes war das, was die Nazis Vernichtung durch Arbeit genannt haben. Es gab stundenlange Appelle, bei denen die Leute zusammenbrachen. Seuchen und Ungezieferbefall waren in den Wohnbaracken an der Tagesordnung. Zu essen gab es nur wässrige Suppen mit Gemüseresten und -abfällen, von denen fast alle Durchfall bekamen, so dass die Matratzen ständig nach Kot gestunken haben. Wer dabei aufgegriffen wurde, dass er sich auf den Feldern der benachbarten Bauern etwas zu essen ausgraben wollte, wurde beimAppell öffentlich geprügelt. Die Lagerinsassen mussten sich diese Prügel gegenseitig verabreichen. Schlug einer dabei nicht stark genug zu, wurden die Rollen getauscht, und der Prügelnde bekam die Prügel selbst.« Beekman senkt seinen Blick in die Weite des Jugendstilsaals. »Mein Vater wurde zum Pechschmelzen eingeteilt. Der Asphalt wurde in riesigen Kesseln geschmolzen und mit Schotter, Kies und Sand vermischt. Niemand trug Schutzkleidung oder Atemmasken, und die giftigen Teerdämpfe setzten sich in den Lungen und auf der Haut fest. Es bildeten sich eiternde Wunden, die Arbeiter litten an Atemnot und Schwindelanfällen. Viele von ihnen starben nach zwei oder drei Wochen. Andere wurden versetzt, aber das war kaum eine Erleichterung. Zum Zerkleinern der Steine wurden motorbetriebene Steinbrecher eingesetzt, in die mit Metallgabeln die Steine geschaufelt werden mussten. Die Arbeiter wurden von dichten Staubwolken eingehüllt, und die Staubpartikel verstopften ihnen die Atemorgane. Irgendwann bekamen sie Halsschmerzen und gerötete Augen und spuckten Schleim und Blut. Man nennt diese
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