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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Jahren – seine Enkeltochter wahrscheinlich. Sechzig Jahre liegen zwischen den beiden Fotografien. Weiß das Mädchen etwas von der Geschichte ihres Urgroßvaters? Woher kommt der Ernst in den dunklen Augen des Kindes?
    Er kehrt ins Hotel zurück. Es ist niemand im Zimmer. Er hat gehofft, Zoe wäre zurück. Er geht ins Bad, er hat noch drei Topamax-Tabletten. Morgen muss er sich darum kümmern. Der Entzug antiepileptischer Medikamente nimmt dem Körper nicht nur den notwendigen Schutz, sondern kann direkt anfallsauslösend wirken.
    Er nimmt eine Tablette und kehrt zurück auf die Straße. Die letzten Lichtreste des Tages liegen über den Grachten. Das Rolltor vor dem Live-Porno-Show-Club ist hochgezogen, der Betrieb im Rotlichtviertel hat begonnen.
    Nachdem er mittags nichts gegessen hat, spürt er jetzt umso mehr, dass er Hunger hat. Er setzt sich in ein Restaurant in einer ruhigen Nebenstraße ohne Koberfenster, Touristen und Straßenprostitution. Während des Essens ruft Rolf an.
    »Wie ist es bei Essent gelaufen? Waren sie interessiert?«
    »Es wird nichts daraus«, sagt er.
    »Gab es ein Problem?«
    »Nein, kein Problem. Wir haben nicht, was sie brauchen.«
    »Wir sind sehr flexibel.«
    »Manchmal passt es, manchmal nicht.«
    »Wie du meinst«, sagt Rolf. »Weißt du schon, wann du morgen hier ankommst?«
    »Ich habe mich noch nicht um einen Flug gekümmert.«
    »Es geht eine Maschine um neun und eine um halb zwölf. Neun wäre besser – wir müssen die Verhandlungen mit den Banken vorbereiten. Also halte dich vom Rotlichtviertel fern.«
    »Danke für den Rat«, reagiert er etwas zu schroff auf den offenkundigen Scherz.
    Vielleicht sollte er es so machen: die Maschine um neun Uhr nehmen und in sein Frankfurter Leben zurückkehren. Unter anderem würde sich damit das Topamax-Problem erledigen. Was hält ihn in Amsterdam, nachdem Zoe gegangen ist? Sie hat ihn verlassen. Er könnte sie anrufen, aber soll er das? Ohne eine Nachricht zu gehen ist Botschaft genug: Es ist vorbei. Er sollte ihre Entscheidung respektieren. Wahrscheinlich ist es das Vernünftigste so.
    Er geht an den Koberfenstern mit den feixenden Männertrauben vorüber. Ihre Bedürfnisse und Begehrlichkeitenwidern ihn auf einmal an. Was muss einem fehlen, dass man es so will? Es macht ihn wütend, er könnte schreien vor Wut. Natürlich schreit er nicht. Ist er selbstgerecht? Seit Tagen stolpert er über dieses Wort: selbstgerecht. Ist das sein Problem? Ist er selbstgerecht?
    Er streunt bis Mitternacht durch die Straßen, dann kehrt er ins Hotel zurück. Im dunklen Zimmer sitzt Zoe auf der Bettkante. Als er es begreift, durchströmt ihn tiefe Freude. Er geht um das Bett herum und setzt sich neben sie. Die diffuse, von der Straße heraufscheinende blasse Farbigkeit des Lichts liegt auf ihrem Gesicht. Ihre Wangen sind feucht, sie hat geweint, weint noch. Irgendwann sagt sie leise: »Es tut mit leid.«

DREIZEHN
    ER ERWACHT , weil etwas mit seiner Hand geschieht. Sie wird herumgedreht, dann kitzelt es ein wenig an der Handinnenfläche. Er schlägt die Augen auf, es ist hell im Zimmer. Zoe hält seine Hand und betrachtet sie eingehend. Mit der Spitze ihres Zeigefingers folgt sie einer der Linien, dann einer anderen, als wäre seine Hand ein Labyrinth, bei dem sie den Ausgang sucht.
    »Guten Morgen«, sagt er.
    »Ich kann dir deine Zukunft voraussagen«, sagt sie.
    »Gut.«
    »Was willst du wissen?«
    »Wann werde ich das nächste Mal Sex haben?«
    Zoe ist nackt. »Lass mich sehen.«
    Sie vertieft sich erneut in seine Handinnenfläche. Wieder fährt sie mit dem Zeigefinger einzelne Linien ab. Dann nähert sie sich mit den Lippen seinem Ohr und flüstert: »Jetzt.«
    Sie rollt sich auf ihn, und er umarmt sie. Sie lieben sich. Er hat bisher geglaubt, Sex sei etwas Eigenständiges, eine Macht, die sich der Liebe und all unserer Gefühle nur bedient, um zur Herrschaft über das Bewusstsein zu gelangen.Doch allmählich beginnt er, Zoe zu verehren, abgöttisch und ganz: ihr Wesen und ihren Körper. Als sie jetzt miteinander schlafen, meint er sie und niemanden sonst. Ist es für sie ebenso? Er spürt, dass sie sich an der körperlichen Hingabe berauscht. Gilt diese Hingabe ihm?
    Hinterher liegen sie nebeneinander auf dem Bett. Es gibt noch eine andere Zukunft außer der, Sex zu haben. Er sagt: »Ich muss heute zurück nach Deutschland.«
    Zoe steht auf und zieht sich ein T-Shirt über. Dann geht sie zum Fenster, öffnet es, zündet sich ihre erste Zigarette

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