Was Liebe ist
Stunde vergeblich darauf, dass sie kommt.
Was kann geschehen sein? Sollte er sich Sorgen machen? Zoe hat mehrere Jahre in Amsterdam gelebt, und es ist anzunehmen, dass sie nach wie vor Bekannte und Freunde in der Stadt hat, bei denen sie unterkommen kann. Aber warum ist sie gegangen? Weil sie nicht wollte, dass er sie noch länger in ihrem Katerelend sieht? Oder steckt mehr dahinter? Glaubt sie nicht an das, was sich gerade zwischen ihnen entwickelt? Er weiß ja selbst nicht, was es ist. Liebe? Leidenschaft? Ein schneller Gefühlsrausch?
Sie müssten den Weg wohl noch ein Stück weitergehen, um herauszufinden, wohin er sie führt. Auch Gefühle können unscharf sein. Man muss sich ihnen nähern, um sie zu erkennen. Aber vielleicht will sie das nicht. Vielleicht braucht sie noch Zeit. Haben sie die? Er weiß es nicht.
Mittags betritt er das Café Americain am Leidseplein. Allmählich hat er das Gefühl, dass in Amsterdam alles Café heißt: die Restaurants, die Kneipen, die Haschischstuben, die echten Cafés. Das Café Americain gehört zu einem alten Luxushotel. Die Einrichtung hinter den hohen Fenstern ist Jugendstil, offenbar original.
Hier ist er mit Jacob Beekman verabredet. Er hat den Termin vor einer Woche vereinbart. Er nennt dem Empfangschef seinen Namen und wird zu einem Tisch mit Blick auf den Leidseplein geführt.
Beekman ist bei Essent für Umspanntechnik zuständig. Er ist Anfang sechzig, klein, korpulent, freundlich. Kurze, lockige, fast weiße Haare umkränzen seine gebräunte Scheitelglatze. Er erhebt sich, und sie geben sich die Hand. »Ich habeschon viel von Ihren Produkten gehört. Sehr gute Qualität, deutsche Wertarbeit«, sagt Beekman keineswegs ironisch, nachdem sie den Tageslunch bestellt haben.
»Ehrlich gesagt, geht es mir nicht darum, mit Ihnen über unsere Transformatoren zu sprechen«, sagt er.
Beekmanhebtseinedichtengrauen Augenbrauen. »Nicht? Ich dachte, deswegen wären Sie hier.« Sein Deutsch ist sehr gut, eingefärbt mit holländischen Betonungen und Aussprachegewohnheiten, aber grammatikalisch nahezu fehlerfrei.
»Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie in dem Glauben gelassen habe, es ginge ums Geschäft«, sagt er, »aber alles andere wäre zu kompliziert gewesen. Es ist einfacher, wenn wir uns gegenübersitzen. Darf ich Ihnen ein Bild zeigen? Würden Sie es sich anschauen?«
Er greift in die Innentasche seines Jacketts und zieht ein vergilbtes Pergamintütchen im Format einer Postkarte heraus. Einem Aufdruck auf der Rückseite zufolge wurde es einstmals zum Ausbezahlen von Arbeitslohn verwendet:
Sofort nachzuzählen! Einsprüche gegen die Richtigkeit der Zahlung müssen spätestens an dem der Zahlung folgenden Arbeitstag geltend gemacht werden. Ziegler Aktiengesellschaft, Berlin.
Auf der Vorderseite, links oben, mit Schreibmaschine getippt, stehen zwei Vornamen: Harry Israel und dem gegenüber auf der rechten Seite Beekman 87 366 Ju . Er zieht ein Passfoto aus dem Tütchen: das Schwarzweißportrait eines Mannes um die dreißig, angeleuchtet von vorne vor einem hellen Hintergrund. Der Gesichtsausdruck ist ernst, der Blick gesenkt und verborgen hinter den spiegelnden Gläsern einer runden Metallbrille.
Beekman nimmt das Foto entgegen. Er betrachtet es lange und schweigend und sagt dann: »Warum sind Sie hier?«
Er sagt: »In einem Zeitungsbericht über die Fusion von PNEM und EDON habe ich vor kurzem Ihr Foto gesehen. Es schien mir, dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Ihnen und der Person auf dieser Aufnahme gibt. War Harry Beekman Ihr Vater?«
»Woher haben Sie das Foto?«
»Es stammt aus unserem Firmenarchiv. Die Ziegler Group ist aus einem Unternehmen hervorgegangen, das mein Großvater 1931 als Spulen- und Ankerwickelei gegründet hat. Ich habe mich als Jurist mit den Zwangsarbeiterklagen befasst, die zur Zeit gegen eine Reihe von deutschen Unternehmen verhandelt werden. Ich nehme an, Sie haben davon gehört. Unsere Firma steht nicht unter Anklage, dafür sind wir nicht bedeutend genug, aber wir müssen eine Haltung zu der Problematik einnehmen, weil die Bundesregierung einen Entschädigungsfonds auflegen will. Und da unser Firmenarchiv bei der Bombardierung Berlins nicht in Flammen aufgegangen ist, konnte ich bei meinen Recherchen auf Originaldokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückgreifen. Es ist alles noch da: Personalunterlagen, Gehaltslisten, Anordnungen, Korrespondenzen …«
Ohne den Blick von dem Foto zu wenden, sagt
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